Kängurus
in der Lüneburger Heide
Von Hilal Sezgin
In den letzten Wochen waren in der Lüneburger Heide überdurchschnittlich viele Kängurus unterwegs. Mitte Mai flohen zwei kleine Kängurus namens Wickie und Urmel aus dem Serengeti-Zoo und wurden erst drei respektive vier Wochen später wieder eingefangen. (Und zwar musste für die kleine Urmel extra eine Falle gebastelt werden, in die man sie mit dem Duft ihres Partners Wickie lockte.) Anfang Juni versuchte es ein männliches Känguru im Landkreis Schaumburg; der Besitzer hat es immer noch nicht wieder eingefangen.
Mitte Juni gastierte der Zirkus Charles Knie in Lüneburg; dort sollen zwei Gäste ein Rotes Riesenkänguru in seinem Gehege provoziert haben. Es entkam, gelangte durch den Kurpark auf den Schulhof einer Lüneburger Grundschule und wurde dort wieder eingefangen. Ein solches Känguru kann bis zu neun Meter weit springen; das männliche Tier besitzt eine Halsdrüse, die bei Stress ein rotes Sekret absondert. Die Kinder waren in Panik, teils weil das Tier so groß war, teils, weil sie dachten, es blute.
In der Presse lasen sich all diese Dinge dann recht niedlich. Kängurus waren „ausgebüxt“, statteten Schülern „einen Besuch“ ab, „drehten ein paar Runden durch den Kurpark“, hatten sich „ auf die Socken gemacht“, machten einen „Ausflug“ oder eine „Stadttour durch Lüneburg“. „Norbert ist ziemlich neugierig und hat die Situation gern für sich genutzt“, sagte der Zirkussprecher.
Ich selber habe oben geschrieben, sie seien „unterwegs“ gewesen. Wir sind vollkommen daran gewöhnt, furchtbare Dinge zu verniedlichen, ja, zu verharmlosen, wenn sie einem Tier geschehen. Erst auf einem Umweg über menschliche Katastrophen finden dich andere, passendere Verben – und, mal ernsthaft: ein unfreies Tier zu sein, den Ausbruch zu versuchen und wieder in die Gefangenheit zurückkehren zu müssen, das ist für das betreffende Individuum eine Katastrophe. Vergegenwärtigen wir uns, wie man es formulieren würde, wenn es menschliche Gefangene wären. Nehmen wir an, man sollte en Plot eines Films wiedergeben, in dem unschuldig inhaftierte Gefängnisinsassen entkommen sind, oder irgendetwas, das zu den Zeiten der Sklaverei in Amerika spielt.
Würde ich schreiben: Sie drehten eine Runde in den Rocky Mountains? Sie tourten ein bisschen in den Great Plains, schauten kurz in der Kleinstadt XY vorbei ? Nein, ich würde schreiben: Sie irrten durch Berge und Ebenen. Verirrten sich. Gerieten in eine Sackgasse. Konnten kurzfristig wieder entkommen. Wurden in die Enge getrieben. Wurden überwältigt (nicht: vom Besitzer eingefangen). Man hetzte sie, kesselte sie sie ein, umzingelte sie, stellen ihnen eine Falle (nicht: bastelte sie). Eventuell entkamen sie ihren Häschern. Man würde nicht schreiben: Sie entwischten drei Zirkusleuten. Norbert, dieser Schelm, da hat er die Situation doch tatsächlich, „für sich genutzt“. Und mal ein paar Neun-Meter-Sprünge getan, statt brav im Zirkus über die Hürde zu hüpfen oder den Lüneburgern sein Heimatland Australien zu präsentieren. Einfach den Nachmittag frei genommen – also diese frechen Gefangenen aber auch!
In einem phänomenalen Büchlein, in einem amerikanischen Kleinstverlag erschienen und leider noch nicht ins Deutsche übersetzt, versammelt der Historiker Jason Hribal wahre Geschichten von flüchtenden und sich zur Wehr setzenden Tieren. Ich las dieses Buch zufällig gerade, als mich Bekannte anriefen, die den Ausbruch des unglückseligen Norbert miterlebt hatten. Geschichte widerfährt Tieren nicht nur, sagt Hribal, sie handeln selbst. Sie fliehen oder versuchen sich für schlechte Behandlung zu rächen. Von Tigerin Tatiana wird berichtet, dass sie im Zoo von San Francisco 2007 ausbrach und gezielt nach denjenigen suchte, die sie vor kurzem mit Gegenständen beworfen hatten. Alle anderen Menschen, an denen sie vorbeikam, ließ sie in Ruhe. Als die Zirkus-Elefantendame Janet 1992 ausbrach, ließ sie sich die auf ihr reitenden Kinder abnehmen, bevor sie ihre Peiniger verfolgte.
Diese Tiere sind nicht rasend, nicht wild, nicht auf Abwegen, nicht irrtümlich entkommen. Sie lehnen sich auf gegen eine Behandlung und eine Unfreiheit, die sie nicht wollen. Anscheinend müssen wir Geschichte, oder, bescheidener: Zeitungsartikel, anders schreiben. Denn wie jenes afrikanische Sprichwort besagt: Solange die Löwen keine eigenen Geschichtenerzähler haben, werden Jagdgeschichten den Ruhm der Jäger verbreiten.
Ersterscheinung: FR, 3. 7. 2012
Hilal
Sezgin ist Kolumnistin. Sie schreibt für die FR und die Berliner
Zeitung. Ihr Buch „Landleben. Von einer die rauszog“ erschien im
DuMont Buchverlag 2011.