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Weltskandal Hunger

Armin Paasch und Andrea Brock


Wenn Mitte November die Regierungen in Rom zum Welternährungsgipfel zusammenkommen, müssen sie Rechenschaft ablegen über einen skandalösen Weltrekord: Erstmals in der Menschheitsgeschichte sind über eine Milliarde Menschen chronisch unterernährt – trotz einer Rekordgetreideernte im Jahr 2008, trotz gesunkener Nahrungsmittelpreise und trotz zahlreicher internationaler Konferenzen und Initiativen während der letzten zwei Jahre.

Offenbar hat die internationale Staatengemeinschaft im Kampf gegen den Hunger versagt. Jetzt droht die Zuständigkeit für Welternährungspolitik zudem fast gänzlich der Weltbank und den G20 übertragen zu werden – wenn es nicht doch noch ein Comeback der Vereinten Nationen gibt, in der auch ärmere Länder eine Stimme haben.

Die UN-Welternährungsorganisation FAO schätzt, dass die Anzahl der chronisch Unterernährten zwischen 2005 und 2008 infolge der steigenden Agrarpreise von 850 auf 915 Millionen emporschnellte. Obwohl die Weltmarktpreise seit Herbst 2008 wieder sinken, folgte im Juni 2009 die nächste Hiobsbotschaft: Die Anzahl der der Hungernden werde 2009 etwa 1,02 Milliarden erreichen – trotz einer globalen Rekordgetreideernte 2008 und ähnlich guten Erträgen 2009.

Die Zunahme der Unterernährung ist nicht Resultat eines begrenzten internationalen Angebots an Nahrungsmitteln“, stellt die FAO zu Recht klar. Hauptverantwortlich für die erneute Verschärfung der Hungerkrise ist vielmehr die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise. Ausgelöst durch die Deregulierung der Finanzmärkte und Fehlspekulationen im Norden, trifft sie den globalen Süden mit der größten Wucht. Teure Kredite behindern überfällige Investitionen in der Landwirtschaft. Rückläufige Aufträge und Firmenpleiten, besonders in Exportsektoren, treiben Millionen in die Arbeitslosigkeit. Die extreme Inflation verhindert in vielen Ländern, dass die gesunkenen Weltmarktpreise für landwirtschaftliche Rohstoffe auch niedrige Lebensmittels nach sich ziehen. Obwohl die Rohstoffpreise international gesunken sind, lagen die realen Durchschnittspreise für Grundnahrungsmittel in Entwicklungsländern Mitte 2009 immer noch um 24 Prozent höher als zwei Jahre zuvor. Laut Internationalem Währungsfonds (IWF) droht dieses Jahr, inmitten der Krise, zudem ein Rückgang der Entwicklungshilfegelder um 25 Prozent.

Dabei hat es an Konferenzen zur Hungerkrise seit 2007 nicht gemangelt. Im Juni 2008 in Rom und im Januar 2009 in Madrid berieten die Regierungen über neue Schwerpunkte, notwendige Programme und eine bessere Koordination der Welternährungspolitik. Viel Beachtung fand das Thema auch auf den G8-Gipfeln 2008 in Japan und 2009 in Italien. Tatsächlich ist es nicht bei leeren Worten geblieben. Allein seit Juni 2008 haben das World Food Programme der Uno (WFP) 5,1 Mrd., die Weltbank 2,2 Mrd., die FAO 347 Mio. und der Internationale Fonds für landwirtschaftliche Entwicklung (IFAD) 241 Mio. US-Dollar für den Kampf gegen die Hungerkrise mobilisiert. Eine koordinierende Rolle nimmt in diesem Konzert inzwischen die „High Level Task Force on the Global Food Crisis“ (HLTF) ein, die im April 2008 eigens durch UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon eingerichtet wurde. Neben den mit Ernährung befassten UN-Organisationen sind dort auch die Weltbank, der IWF und die Welthandelsorganisation (WTO) vertreten.

Alle einigten sich im Juli 2008 auf einen gemeinsamen Rahmenaktionsplan. Das Papier, das weder mit der Zivilgesellschaft konsultiert noch den Regierungen zur Abstimmung vorgelegt wurde, skizziert eine umfassende Strategie und Rollenverteilung zwischen den verschiedenen internationalen Akteuren. Der Plan enthält durchaus positive Ansätze: So sollen die öffentlichen Ausgaben von Entwicklungsländern für Landwirtschaft und ländliche Entwicklung gesteigert werden. Der Anteil der ländlichen Entwicklung an der Entwicklungshilfe, der zwischen 1979 und 2006 von 18 auf 2,9 Prozent abgestürzt war, soll in den nächsten fünf Jahren auf mindestens zehn Prozent aufgestockt werden. Auch soziale Sicherungssysteme will man wieder stärken.


Ungebrochener Technologie- und Freihandelsglaube

Das Problem bei alledem: Wenngleich das Menschenrecht auf Nahrung in dem Dokument genannt wird, spielt es bei den Empfehlungen innerhalb dieser Themenbereiche keine Rolle. Die Krisenprogramme, die seither aufgelegt wurden, spiegeln diese strategische Fehlausrichtung in vollem Maße wider.

Zu Recht ist die Förderung der Landwirtschaft ein zentrales Element der Krisenstrategie aller zwischenstaatlichen Akteure. Fragwürdig ist jedoch die Zielrichtung. Die Initiative on Soaring Food Prices der FAO hat nach eigenen Angaben „einfache, aber effektive Ziele: Saatgut, Dünger, Tierfutter sowie andere landwirtschaftliche Betriebsmittel und Angebote an Kleinbauern zu verteilen“. Wenngleich die FAO einen Angebotsmangel als Ursache explizit verneint, verfolgt ihr Krisenprogramm fast ausschließlich das Ziel der Produktionssteigerung. Die Weltbank bewilligte im Rahmen ihres Global Crisis Response Programme seit Juni 2008 521 Mio. US-Dollar für landwirtschaftliche Inputs und „großflächige Bewässerungsprojekte“ in 14 Ländern. In den nächsten beiden Jahren will sie ihr gesamtes Landwirtschaftsbudget von vier auf sechs Mrd. US-Dollar anheben. Die Finanzierungsgesellschaft der Weltbank vergab im Haushaltsjahr 2008/09 zwei Mrd. US-Dollar Kredite an die Agrarwirtschaft und will diese Summe innerhalb der nächsten drei Jahre um bis zu 30 Prozent steigern. Das Hauptziel ist nach eigenen Angaben eine stärkere Rolle der Privatwirtschaft und eine Produktivitätssteigerung „durch Hochertragssaatgut, Bewässerungsprojekte, Düngemittelfabriken und die Wiederbewirtschaftung ungenutzter Ländereien“.

Statt die Bauern nach ihren lokalen Bedürfnissen zu befragen, werden Technologiepakete als Patentlösungen angeboten. Wie die Nahrungsmittelhilfe in den 80er Jahren afrikanischen Konsumenten Brot und Reis aus den Industrieländern erst schmackhaft machte, erschließen aktuelle Programme afrikanische Kleinbauern als künftigen Absatzmarkt für die Saatgut- und Düngerindustrie. Auch das Weltbankziel, in scheinbar „brachliegende Ländereien“ zu investieren, lässt vor dem Hintergrund der massiven Landnahmen aufhorchen – zumal die Absicherung traditioneller Landrechte von Kleinbauern, Indigenen und Pastorallisten sowie umverteilende Landreformen in den Krisenprogrammen keine Rolle spielen. Dass ausgerechnet die Weltbank einen Dialog mit Regierungen über die aktuellen großflächigen Landkäufe gestartet hat, ist alarmierend. Hatte sie doch seit Mitte der 90er Jahre weltweit die „Flexibilisierung“ von Landmärkten vorangetrieben und dem Ausverkauf von Boden an ausländische Investoren tatkräftig den Boden bereitet.

Ebenso ungebrochen ist das neoliberale Credo der HLTF in Sachen Agrarhandel. Das durch die Hungerkrise entstandene Misstrauen in den Weltmarkt, so die Experten, „könnte den Fortschritt bei Schaffung eines fairen internationalen Handelssystems bedrohen, weil Länder erwägen werden, zur Selbstversorgung allein aus eigener Produktion und Lagerung zurückzukehren.“ Um das zu verhindern, fordert die HLTF einen möglichst raschen Abschluss der Doha-Runde in der WTO. Importzölle, Exportsteuern und Subventionen sollen schnell und gründlich gekürzt werden

In diesem Sinne hat die Weltbank 2009 in 40 Ländern eine intensive Analyse- und Beratungstätigkeit zur Hungerkrise entfaltet, unter anderem zu den „Implikationen der Krise für Ernährungssicherheit und Handel auf Länder- und regionaler Ebene“. Marktöffnungen auf Druck solcher „Beratung“ und bilateraler Freihandelsabkommen werden zur Folge haben, dass Entwicklungsländer in Zeiten niedriger Weltmarktpreise abermals von Importfluten heimgesucht und die angestrebte Stärkung heimischer Landwirtschaft untergraben wird.


Nahrung für Arbeit“?

Eine Aufwertung hat seit 2007 auch die Nahrungsmittelhilfe erfahren. Es ist bemerkenswert, dass das WFP seit Juni 2008 mit 5,1 Mrd. US-Dollar fast zehnmal so viele Mittel gegen die Hungerkrise mobilisieren konnte wie FAO und IFAD zusammen, welche unter dem Dach der UNO eher für die strukturelle Hungerbekämpfung und Landwirtschaftsförderung zuständig sind. Gewiss: Eine Aufstockung der Nahrungsmittelhilfe war inmitten der akuten Hungerkrise geboten. Dennoch stellt sich die Frage, ob die internationale Gemeinschaft hiermit die richtigen Prioritäten setzt. Als Dumpinginstrument missbraucht, kann Nahrungsmittelhilfe Hungerkrisen mittelfristig verschärfen. In Honduras zum Beispiel behinderten übermäßige Reislieferungen aus den USA noch zwei Jahre nach dem Wirbelsturm Mitch eine Wiederbelebung der heimischen Reisproduktion.

Einiges hat das WFP in den letzten Jahren zwar verbessert. So hat es 2008 für 1,1 Mrd. US-Dollar Nahrungsmittel in Entwicklungsländern selbst eingekauft. Allerdings ist das immer noch kaum mehr als 24 Prozent der Gesamtausgaben. Nicht nur die Potentiale für die Landwirtschaft im Süden, sondern auch schiere Kostengründe sprechen dafür, den Anteil der lokalen Beschaffung deutlich auszubauen.

Grundsätzlich positiv ist der Trend weg von Lebensmittellieferungen hin zu direkten Geldtransfers. Der Haken besteht jedoch darin, dass das WFP im Rahmen von „Geld-für-Arbeit“-Programmen solche Geldzahlungen nur als Gegenleistung für Arbeit auszahlt. Dies gilt noch mehr für die Weltbank, die in diesem Jahr soziale Sicherheitsprogramme in 26 Ländern mit über drei Mrd. US-Dollar an Krediten und Zuschüssen unterstützt. „Nahrung für Arbeit“ und konditionierte Geldtransfers sind jedoch eine grobe Missachtung des Menschenrechts auf Nahrung, das per se bedingungslos jedem Menschen zusteht. Verhängnisvoll ist auch die enge Begrenzung von Geldtransfers und sozialer Sicherheit auf die extrem Armen. Die Erfahrungen in Indien und anderen Ländern haben gezeigt, dass gerade die marginalisierte Bevölkerungsgruppen den administrativen Anforderungen solcher Auswahlverfahren am wenigsten gewachsen sind. Korruption und Klientelismus werden Tür und Tor geöffnet, während Träger von Menschenrechten zu Bittstellern degradiert werden.


Bad Global Governance

Weltbank und IWF haben sich bislang als Totengräber der Landwirtschaft und sozialen Sicherheit im globalen Süden bestätigt. Heute hat sie Weltbank ideologisch wie finanziell die Federführung übernommen. Und geht es nach der G8, soll ihre Rolle noch weiter gestärkt werden. Auf dem Gipfel von Toyako lancierten sie die Vision einer Globalen Partnerschaft für Landwirtschaft und Ernährungssicherheit (GPAFS) zur Umsetzung des Rahmenaktionsplans. Die Geber sollen die Privatwirtschaft, philanthropische Stiftungen und Zivilgesellschaft intensiv einbeziehen; von gewählten Regierungen der Entwicklungsländer war dagegen nicht die Rede. Vor dem G20-Gipfel in Pittsburgh ließ die US-Regierung nun die Katze aus dem Sack: Die 20 Mrd. US-Dollar, welche die G8 in L´Aquila für die Landwirtschaft in Entwicklungsländern zugesagt hatten, sollten einem multilateralen Treuhänderfonds unter dem Dach der Weltbank übertragen werden. Der Vorschlag stieß auf Skepsis von Entwicklungsländern und einigen EU-Ländern. In der G20-Abschlusserklärung wird der Treuhänderfonds zwar erwähnt, das Budget jedoch nicht.

Wird diese geberdominierte bad global governance der Welternährungspolitik verstärkt oder zurückgedrängt? Diese Frage wird den Welternährungsgipfel Mitte November 2009 in Rom bestimmen. Schon im Januar in Madrid hatten Entwicklungsländer gegen die GPAFS massiven Widerstand geleistet und stattdessen eine Stärkung des Committee on World Food Security (CFS) der UNO gefordert. Unter außergewöhnlicher Beteiligung von sozialen Bewegungen und Nichtregierungsorganisationen (NGOs) haben die Regierungen inzwischen einen detaillierten Reformplan erarbeitet. Demnach soll das lange vernachlässigte CFS künftig zum zentralen Gremium zur Koordination, Strategiebildung und Überwachung der Welternährungspolitik ausgebaut werden. Stimmrecht sollen nur Regierungen haben; Organisationen von Kleinbauern, Indigenen, Nomaden und Landarbeitern sowie NGOs sollen aber als Teilnehmer mit weitgehenden Beteiligungsrechten vertreten sein, ebenso die Stiftungen, Weltbank, IWF, WTO und Unternehmensverbände. Eine wichtige Grundlage der Arbeit sollen die Leitlinien zum Recht auf Nahrung sein, welche auf Druck der Zivilgesellschaft 2004 von allen Mitgliedsstaaten der FAO verabschiedet wurden.

Wenngleich viele Details Bauchschmerzen bereiten, setzen soziale Bewegungen und GOs große Hoffnungen in diesen Prozess, der zu mehr Demokratie, Partizipation und menschenrechtlicher Rechenschaft führen könnte. Der Beschluss über die Reform soll auf dem Welternährungsgipfel fallen. Die USA sind dagegen.

Vieles könnte von der EU abhängen, die sich noch nicht eindeutig festgelegt hat. Akzeptiert sie, dass auch die ärmeren Entwicklungsländer über den Kurs der Ernährungspolitik und die notwendigen Ressourcen mitbestimmen? Oder soll die UNO tatsächlich in der Bedeutungslosigkeit versinken? Zugunsten einer Weltbank, in der die Stimmrechte allein von finanziellen Beiträgen abhängen – womit die Armut der Schwachen für die nächsten Jahrzehnte garantiert wären?


Armin Paasch ist Historiker und Germanist, Agrarreferent bei der deutschen Sektion der Menschenrechtsorganisation FIAN.

Andrea Brock ist Studentin der European Studies, derzeit Praktikantin bei FIAN.

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