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Die Globalisierung frisst ihre Schöpfer

von William Pfaff


Zu den bemerkenswerten Zügen der jüngsten US-Kongresswahlen zählt der „Populismus“ der Wähler, wie Kommentatoren den ökonomischen Protest nannten, der in deren Votum offenkundig auch steckt. Amerikanischen (und europäischen) Wählern geht zunehmend auf, dass die mit der Globalisierung verbundenen Versprechungen – sowohl aus dem Munde gelehrter Ökonomen wie von Wirtschaftsführern und Politikern – nicht gehalten werden.

Den Arbeitnehmern der reichen Länder hatte man versprochen, am Ende würden auch sie von der Globalisierung profitieren. Stattdessen müssen sie nun feststellen, dass wohl ihre Länder reicher werden, desgleichen Unternehmer und Manager, gewöhnliche Arbeitnehmer aber objektiv ärmer.

Versprochen war, Arbeitnehmer, deren Arbeitsplätze ins Ausland verlagert werden, müssten zwar möglicherweise Übergangsschwierigkeiten durchstehen, würden aber letzten Endes bessere und anspruchsvollere Jobs bekommen.

Das konnte nicht recht überzeugen, handelte es sich doch sozusagen um den kleinen Bruder eines anderen nicht gehaltenen Versprechens: Die neuen Unternehmensregeln im Zeitalter der Globalisierung würden, so hieß es, dafür sorgen, dass Reichtum und Anerkennung ganz „natürlich“ von oben nach unten durchsickern und buchstäblich jedem Unternehmensangehörigen zugute kommen.

Mittlerweile ist, in der Praxis ebenso wie in der Wirtschaftsliteratur, weitgehend anerkannt, dass die Gewinne, die Unternehmen durch Produktionsverlagerung zufließen, von den Arbeitnehmern Nordamerikas und Westeuropas bezahlt werden müssen.
Diese Erkenntnis beeinflusste das Wahlergebnis in den Vereinigten Staaten und gehört zu den wesentlichen Ursachen jener Feindseligkeit, auf die EU-Erweiterung und fortschreitende Marktvereinheitlichung (etwa bei den derzeit umkämpften Dienstleistungen) in der Öffentlichkeit neuerdings stoßen.

Selbst Joseph Stiglitz, der Ökonom und Nobelpreisträger, neigt wie andere Kritiker dieser Entwicklungen immer noch dazu, das, was den Lohnabhängigen da passiert, als unvorhergesehenen Defekt des neuen Systems anzusehen: „Die ökonomische Globalisierung ist der Globalisierung von Politik und Bewusstsein davongelaufen“, sagt er. „Zunehmende Interdependenz verlangt zunehmend koordiniertes Handeln, aber uns fehlen immer noch die institutionellen Rahmenbedingungen dafür, effektiv und auf demokratische Weise so handeln zu können.“

Ich bin mir nicht sicher, was das heißen soll. Schließlich ist von einer Entwicklung die Rede, welche den an hohe Löhne gewöhnten Bewohnern fortgeschrittener Länder qualifizierte Arbeit wegnimmt, um sie Menschen in armen Gesellschaften anzubieten, die sich danach drängen, gleich qualifizierte Arbeit auf viel niedrigerem Lohnniveau zu leisten (wobei diese Löhne unter den wirtschaftlichen Verhältnissen der betreffenden Länder dennoch angemessen oder sogar großzügig sein können).

Der Niedriglohn-Arbeiter und seine Gesellschaft ziehen in den meisten Fällen Nutzen aus der Entwicklung, doch reihen sie sich damit zugleich in eine Bewegung ein, die logischerweise und dauerhaft nur eine Richtung kennt. Die Logik des Prozesses diktiert nämlich, dass für die ausgelagerte Arbeit immer neue Auslagerungsmöglichkeiten gesucht werden, in immer neuen, jedes Mal noch billigeren Niedriglohn-Gesellschaften. Es gibt, wenn überhaupt, in den fortgeschrittenen Ländern nur sehr wenige Produktions- oder Dienstleistungen, die nicht anderswo viel billiger zu haben sind (oder sein werden).

Erst allmählich dämmert die Erkenntnis, dass letzten Endes auch das Unternehmen selbst, und sein Management der gleichen Logik unterliegen. Warum sollte der indische oder indonesische Hersteller, dessen Erzeugnisse amerikanische, europäische oder japanische Geschäftspartner kaufen, um sie auf anspruchsvolleren Märkten abzusetzen, diesen kostspieligen Überbau nicht ausschalten und selbst die Rolle übernehmen, die heute in Chicago, London oder Frankfurt ansässige Konzernzentralen spielen (mit Managern, die ihre Zeit jetzt in Sankt Moritz oder an anderen Nobelorten in gated communities verbringen)?

Die vormals anonyme chinesische Firma, die für IBM produzierte, kaufte schließlich IBM selbst, weil es ihre eigenen Gewinne schmälerte, das Management in den USA zu belassen. Wenn man diese Gedanken weiterspinnt, ist die Globalisierung noch lange nicht am Ziel. Der Weg dorthin könnte sich als ziemlich ungemütlich erweisen.

Kürzlich verblüffte mich, was ich in einer amerikanischen Zeitung über Schwierigkeiten bei der „Reform“ deutscher Unternehmen las: Die Gesetzeslage dort und die starke Präsenz der Gewerkschaften im Betrieb erschweren Outsourcing und Entlassungen. Der Reporter – denn um einen solchen handelte es sich, nicht um einen Kommentator oder Wirtschaftsexperten – schrieb, die Deutschen hätten „immer noch nicht gelernt, dass Unternehmen dazu da sind, Gewinne zu machen, und nicht dazu, Jobs zu schaffen.“ Seine Bemerkung klang so, als mache er sich über die Deutschen lustig, weil sie die Erde für eine Scheibe halten. Dabei plapperte er nur die derzeit herrschende, noch recht neue Glaubensweisheit der anglo-amerikanischen Geschäftswelt nach, derzufolge es ausschließlich auf den Gewinn ankommt, ganz ungeachtet sozialer Kosten oder Verpflichtungen.

Noch in den 50er Jahren des 20.Jahrhunderts galt in den Vereinigten Staaten allgemein das „Stakeholder“-Modell der Unternehmensführung, an Wirtschaftsfach- und –hochschulen genauso wie in der Praxis. Dieses Modell besagt, dass ein Unternehmen dazu da ist, Gewinne zu machen, gewiss, zugleich aber Verantwortung dafür trägt, seinen Beschäftigten sichere Arbeitsplätze und angemessene Entlohnung zu bieten sowie die wirtschaftlichen Interessen des Landes und das Gemeinwohl zu fördern.

Das Modell ist keineswegs überholt oder ineffizient. In Japan beispielsweise erfreut es sich verbreiteter Anerkennung. Etwa bei Toyota, dem erfolgreichsten Automobilhersteller der Welt, der genau dieses Modell praktiziert. Die einst weltweit dominierende US-Automobilindustrie hingegen steht am Rande des Zusammenbruchs und versucht, das letzte Überbleibsel der vormals auch von ihr anerkannten sozialen Verantwortung über Bord zu werfen, nämlich ihre vertraglich geregelten Verpflichtungen im Krankheitsfall.

Wir sollten uns klarmachen, dass die derzeit vorherrschenden Annahmen und Glaubenssätze in Sachen Ökonomie, national wie international, ziemlich jungen Datums sind, willkürlich, kritikwürdig und zweifellos ebenso vergänglich wie alle vorausgegangenen seit Adam Smith (der ein Humanist war). Milton Friedman ist gerade gestorben. Der Monetarismus wird nicht mit ihm sterben, aber zu einer Fußnote der Wirtschaftsgeschichte werden. Keynes und der Keynesianismus finden erneut Beachtung. Seine Wirkung wird, meiner Meinung nach, Friedman überdauern. Warum? Weil Keynes´ Denkweise im Kern humanistisch ist.

International Herald Tribune
Tribune Media Service
Blätter für deutsche und internationale Politik 1.07



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