Amerikas Zukunft ist schwarz!
Von
Cornel West
Ich
komme aus dem amerikanischen Imperium, wo das kostbare Experiment
namens Demokratie derzeit auf eine ernste Probe gestellt wird –
Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat. Ich
erzähle Ihnen etwas, das Sie vielleicht sogar in Ihren
Grundfesten erschüttert, und sei es nur für einen
Augenblick. Denn Demokratie ist wichtig, und deshalb ist es mir
wichtig, über jene Menschen zu sprechen, die der große
Funk-Sänger Sly Stone als „Everyday-People“
bezeichnet hat, Menschen, die den Mut aufbringen, selbständig
und kritisch zu denken, die den Mut aufbringen, anderen zu helfen,
die den Mut nicht sinken lassen, selbst wenn es keine Hoffnung mehr
gibt. Menschen, die sich organisieren und andere mobilisieren, um im
Angesicht des Machtmissbrauchs durch politische Eliten selbst wieder
Einfluss zu erlangen. Sie stehen damit in der Tradition eines
Experiments, das sich Hunderte und Aberhunderte von Jahren bis nach
Athen zurückverfolgen lässt. Ich möchte daher mit der
sokratischen Note beginnen.Bsp-Icons
Ich habe mich immer als
ein Jazzer im Reich der Gedanken und als ein Bluesman in der Welt der
Ideen verstanden. Wie Sie wissen, dienen Jazz und Blues nicht bloß
der Unterhaltung, sie sind keine Formen von Entertainment, sondern
grundlegende Formen des Daseins, besonders für den „Mann
auf der Straße“. Woher nimmt man den Mut, gegen den Strom
zu denken, die Fesseln der Selbstgefälligkeit zu sprengen, ja
die der Feigheit? Schlagen wir bei Platon in der „Apologie des
Sokrates“ nach: „ Ein Leben ohne Selbsterforschung hat es
nicht verdient, gelebt zu werden“. Hier meint es jemand ernst.
Und mit Malcolm X kann man hinzufügen: Ein Leben in
Selbsterforschung ist schmerzhaft, sehr schmerzhaft, und zwar, weil
man versuchen muss, ein Leben in Unzufriedenheit zu führen, ein
Leben, das nicht im Einklang mit der Gesellschaft steht. Wie Duke
Ellington sagte: Das Leben der Schwarzen in Amerika ist eine
Dissonanz. Das ist die Lebensweise der Bluespeople. Sie bedeutet,
dass man gegen den Rhythmus leben muss.
Das gefällt mir
so an Sokrates: Man kann ihn nicht ernst nehmen, ohne in gewisser
Weise Angst zu bekommen vor der Radikalität seines Fragens –
nicht nur vor seinem intellektuellen Scharfsinn, sondern vor der
Offenheit und Frechheit, mit der er fragt. Um genau diesen Prozess
des Hinterfragens geht es in der Demokratie: um einen schonungslosen
Dialog. Und wozu? Um alle Formen von Dogmatismus und Fundamentalismus
infrage zu stellen. Und nicht zuletzt, um sich mit dem Tod
auseinanderzusetzen, mit der Vergangenheit, und mit der Gegenwart.
Ein Jazzer und ein Bluesman zu sein bedeutet unter anderem,
sich bewusst zu machen, dass man aus einer bestimmten Tradition
innerhalb des demokratischen Experiments in Amerika kommt, die sich
immer wieder gegen den Tod zur Wehr setzen musste – und das
innerhalb einer Kultur, die den Tod gern verdrängt, die ihn
vergessen machen möchte, die vor ihm flieht. Mit anderen Worten:
Die Bluespeople müssen sich mit einer empfindsamen,
sentimentalen Kultur auseinanderzusetzen, die sich stets auf der
Seite des Guten im Kampf gegen das Böse wähnt, die sich
immer ein Happy End herbeiwünscht und die ihren Erzählungen
die Struktur eines Melodramas zugrunde legt, mit Helden ohne Fehl und
Tadel auf der einen Seite und Schurken auf der anderen - und das sind
alles Anzeichen, dass diese Kultur noch nicht erwachsen ist. Wie der
große Gelehrte aus Havard, der Autor des Klassikers „American
Renaissance“ aus dem Jahre 1941, F.O. Matthiessen, der sich
1950 das Leben nahm, in seinen Veranstaltungen immer und immer wieder
fragte, „Wird Amerika als einzige Nation der Neuzeit den Weg
der Phase der vermeintlichen jugendlichen Unschuld bis zur Phase der
Dekadenz beschreiten, ohne zwischendurch auch das Zeitalter der Reife
zu erleben?“ Das ist eine tiefsinnige Frage – aber auch
eine sehr gefährliche, gerade heutzutage.
Das ist auch
der Grund, weshalb sich so viele meiner Bemühungen um das
drehen, was ich paideia nenne, eine demokatische Form von paideia.
Paideia, was heisst das? Zunächst einmal bedeutet es eine
„Schärfung der Aufmerksamkeit“, um eine wundervolle
Formulierung von Simone Weil zu gebrauchen. Wie kultiviert man, bei
sich selbst und bei anderen, die Fähigkeit, sich vom
Nebensächlichen ab- und den wirklich wichtigen Dingen
zuzuwenden? Nicht zuletzt dient die Schärfung der Aufmerksamheit
dazu, eine Persönlichkeit herauszubilden, die nicht nur die
Sonnenseite des Lebens wahrnimmt, sondern auch die dunkle Seite der
Wirklichkeit ans Licht holt: die Nachtseite der Geschichte.
Sokrates ist nicht nur deshalb so faszinierend, weil er nie
eine Zeile schrieb, sondern auch, weil er nie eine Träne
vergießt. Thomas Morus hat einen ganzen Dialog darüber
geschrieben, 1535, als er im Tower zu London saß. „ Wie
kommt es, dass Sokrates nur zweimal lacht und nie eine Träne
vergießt? Irgendwas stimmt da nicht!“ Man kann nicht über
schmerzhafte Wirklichkeit einer demokratischen Lebensführung
sprechen, ohne zugleich Sokrates grundlegend mit seinen eigenen
Waffen zu schlagen, ohne zu erkennen, wo seine Grenzen liegen. Denn
ein Mensch, der nie eine Träne vergossen hat, hat niemals einen
Partner wirklich innig geliebt. Sokrates liebte die Weisheit –
philosophia heißt ja „Liebe zur Weisheit“ - , aber
er hatte keine Tränen, keine tief empfundene Liebe für das
Gegenüber aus Fleisch und Blut.
Einer der Gründe,
warum die Vereinigung der beiden wichtigsten Aspekte des griechischen
und des jüdischen Denkens – das Sokratische und das
Prophetische – in meinem Denken eine so große Rolle
spielen, ist, das die Begründung des prophetischen Modus durch
die Juden ein grundlegender Versuch war, das Wesen des Menschlichen
auf Tränen zu begründen. Auf die Klage. Ein Mensch zu sein,
menschlich zu sein, das bedeutet nichts anderes, als mit seinen
Tränen und seiner Trauer zu kämpfen, und dann einen Bund
mit einer höheren Macht zu schließen, die sagt: Du musst
Mitleid mit dem Fremden haben. Du musst die Bedürfnisse des
anderen anerkennen. Du musst begreifen, dass auch dieser Ausländer
dort Bedürfnisse hat, die „heilig und geheiligt“
sind, um die kraftvollen Worte von Rabbi Abraham Joshua Heschel zu
zitieren. Man muss bei den Tränen und den Klagen anfangen, nicht
bei den intellektuellen Fragen. Amos, Jesaja, Micha, das sind
Propheten für alle Staaten und Völker. Kein demokratisches
Experiment kann gelingen, wenn es keinen Mut zu kritischem Denken
gibt, und dieser Mut muss Hand in Hand gehen mit dem Mut zur
Nächstenliebe, mit dem Mut zur Fürsorge und zum
Mitleid.
Der Kampf der Afroamerikaner um ihre Freiheitsrechte
war in gewisser Weise eine der wichtigsten, wenn nicht sogar die
wichtigste demokratische Bewegung in den USA. Die Verfassung der
vereinigten Staaten wäre ein Dokument der Sklavenhaltung
geblieben, wäre da nicht die Entschlossenheit der Sklaven
gewesen, ihre Freiheit zu erlangen. Daran werden die Menschen nicht
gerne erinnert. Nach der Verabschiedung der Verfassung hieß es
zwar 80 Jahre lang: „We the people..“, die Menschen
sprachen von Demokratie – aber sie waren trotzdem für die
Sklaverei. Das ist nicht bloß eine Unstimmigkeit oder ein
vernachlässigbarer Widerspruch, das ist Verlogenheit und
Heuchelei, ein unvereinbarer Gegensatz, dem man sich stellen muss.
Eine ganze ethnische Gruppe, die „sozial tot“ ist, um die
Formulierung von Orlando Patterson zu benutzen! Kein öffentliches
Ansehen! Kein gesellschaftlicher Status! Nur ein Gebrauchsgegenstand,
den man kaufen und verkaufen konnte, und der zugleich Reichtum in
einem Ausmaß ermöglichte, wie es ihn in der Neuen Welt so
zuvor nicht gegeben hatte. Und trotzdem setzte sich niemand ernsthaft
mit dieser Situation auseinander., bis etwas passierte.
Was?
Eine Katastrophe, eine unglaubliche Krise: ein Bürgerkrieg in
den Vereinigten Staaten. Der barbarischste Krieg des 19.
Jahrhunderts. Und worum ging es? Um das finstere Erbe weißen
Überlegenheitsdenkens, das den demokratischen Fortschritt in den
Vereinigten Staaten aufhalten wollte. Die amerikanischen Bürger
standen vor der Frage: Wollen wir den Tod der Demokratie in Kauf
nehmen, nur um das Überleben des weißen Suprematismus zu
sichern? Und viele beantworteten diese Frage mit Ja! Die
Konföderation der Südstaaten war nichts anderes als
organisierter gewalttätiger Versuch, das demokratische Projekt
in Amerika zu zerstören. Und wie reagierten die Afroamerikaner?
Mit sokratischer Energie! Mit tiefgreifenden Fragen! Und zwar nicht
nur mit selbstbezüglichen oder die eigene Interessengruppe
betreffenden Fragen: Der afroamerikanische Freiheitskampf war, wie
andere Freiheitskämpfe auch, nie ausschließlich auf die
Leiden und die Nöte der Schwarzen beschränkt. Er hatte
immer auch eine moralische Dimension, einen ethischen Aspekt, der
weit über die Belange der Afroamerikaner hinausging.
Es
ist an der Zeit, eine multiethnische Demokratie zu begründen –
dies ist eine Herausforderung, der momentan viele europäische
Staaten gegenüberstehen: Haben sie genügend sokratische
Energie und prophetische Anteilnahme, um eine multiethnische
Demokratie nicht nur in Gang zu bringen, sondern auch am Leben zu
erhalten? Eine Demokratie, die alle homogenen Konzepte von nationaler
Identität hinter sich lässt? Die USA haben das zwölf
Jahre lang versucht: In den 1870er Jahren gab es mehr
afroamerikanische Senatoren als es heute gibt. Obwohl die Armee der
Nordstaaten den Krieg gewonnen hatten, gewann der weiße
Rassismus 1877 durch den Hayes-Kompromiss den Frieden. Und für
die nächsten 85 Jahre existierte inmitten der amerikanischen
Demokratie eine Form von amerikanischem Terrorismus. Das ist sehr
bedeutsam, besonders jetzt, nach dem 11. September 2001. Ich fand es
ziemlich erstaunlich, was viele Zeitungen nach diesen Anschlägen
schrieben: Dies ist das erste Mal, dass Amerikaner mit dem
Terrorismus konfrontiert sind. Ich fragte mich: Von welchen
Amerikanern redet ihr eigentlich? Was glaubt ihr denn, was es mit den
rassistischen Jim-Crow-Gesetzen auf sich hatte? Was glaubt ihr , was
Lynchmorde waren, damals, als 50 Jahre lang alle zweieinhalb Tage ein
schwarzer Mann, eine Frau oder ein Kind als seltsame Frucht von den
Bäumen der Südstaaten hing, jene „Strange Fruit“,
von der die große Billie Holiday sang. Was war das anderes als
Terrorismus, inmitten des ach so kostbaren demokratischen Experiments
in Amerika!
Manche behaupten, dies sei das erste Mal in der
Geschichte der Vereinigten Staaten, dass sich die amerikanischen
Bürger unsicher fühlen: schutzlos ausgeliefert, Opfer
willkürlicher Gewaltakte, Zielscheiben des Hasses, einfach nur
so, weil sie existieren. Ich behaupte: Als Nigger in Amerika war man
400 Jahre lang unsicher, schutzlos, ein Opfer willkürlicher
Gewaltakte und eine Zielscheibe des Hasses – einfach nur so,
weil man existierte. Viele weiße Brüder und Schwestern
kommen bei mir an und sagen: Ach, ich komme einfach nicht klar mit
diesem Gefühl, gehasst zu werden. Ich antworte ihnen: Was du
nicht sagst! Was glaubst Du denn, was es heißt, in Amerika als
Schwarzer zu leben? Bespuckt, beherrscht, gehasst, erniedrigt,
ausgenutzt…zugegeben, das ist kein politisch korekter
Smalltalk, aber es geht hier auch um menschliche Würde. Mit
Wunden und Narben – aber auch mit Würde. Nie nur Opfer,
sondern zugleich auch Täter, im Angesicht der ihnen angetanen
Gewalt.
Deshalb ist es faszinierend, sich die Frage zu
stellen: was passiert, wenn die Vereinigten Staaten zum Nigger
gemacht werden? Wenn ihre Bürger damit zurechtkommen müssen,
in Unsicherheit zu leben, schutzlos ausgeliefert zu sein, wenn sie
Opfer willkürlicher Gewaltakte sind und gehasst werden? Wissen
Sie wer Emmett Till war? Ein junger Schwarzer, der im August 1955 in
Missisippi von einem feigen weißen Rassisten ermordet wurde.
Seine Mutter brachte seinen Sarg zurück nach Chicago, Emmett war
ihr einziges Kind, ihr Mann hatte in der amerikanischen Armee
gekämpft, hatte die amerikanische Flagge getragen und alle
zuständigen Behörden auf Bundes- wie auf lokaler Ebene
sagten: Halten Sie den Sarg beim Trauergottesdienst geschlossen. Wir
wollen die dunkle Seite der amerikanischen Demokratie nicht wieder
ans Tageslicht zerren. Und sie sagte: Nein, wir werden den Sarg offen
lassen! 50.000 Menschen kamen in die Robert Temple Church of God in
Christ in Chicago im August 1955 – das war die erste große
Bürgerrechtsdemonstration bevor sich Rosa Parks in einen Bus
setzte, um für Gerechtigkeit aufzustehen. Die allererste! Und
was sagt Emmett Tills Mutter, als sie zu ihrer Ansprache auf die
Kanzel trat? Sie schaute auf, sie sah ihr Kind, sein Kopf war auf die
fünffache Größe angeschwollen, sie schaute das
Publikum und die Kameras an und sagte: „Ich habe keine Sekunde
an den Hass zu verschwenden – ich werde für den Rest
meines Lebens für die Gerechtigkeit kämpfen.“
Sokratisch. Prophetisch, in der Tradition der liebenden Fürsorge,
der unverbrüchlichen Liebe von der Amos, Micha und Jesaja
sprachen, und die ein Jude namens Jesus auf seine ganz besondere
Weise praktizierte. Aber es ist sehr interessant, was geschieht, wenn
Amerika Opfer des Terrors wird – hört man da jemals solche
Sätze? Martin Luther King sah sich einer ähnlichen
Herausforderung gegenübergestellt, als vier junge schwarze
Frauen von amerikanischen Terroristen in Birmingham, Alabama ermordet
wurden. Das war das erste Mal, dass er bei einem öffentlichen
Auftritt weinte. Und was sagte er? „Wir müssen irgendwoher
den Mut nehmen, im Angesicht des Terrors die Waffen der Liebe und der
Gerechtigkeit zu schmieden“ – das waren seine Worte. Es
ist eine Ironie der Geschichte des frühen 21. Jahrhunderts:
Jetzt, da Amerika den Blues hat, kann es etwas von den Bluespeople
lernen.
Cornel West ist Professor für Theologie und afroamerikanische Studien an der Princeton University und einer der führenden schwarzen Intellektuellen Amerikas. Zu seinen wichtigsten Publikationen zählen „Race Matters“ (1993, Beacon Press) und „Demokracy Matters“ (2004, Penguin Books)