Kinderarmut
Politik
gegen Kinderarmut
Wäre
die große Koalition bei Familien von Langzeitarbeitslosen und
Geringverdiener(inne)n ähnlich freigiebig wie bei Firmenerben,
müsste es heute keine Kinderarmut mehr geben. Offenbar will man
jedoch weniger die Armut von Kindern als die Armut an
Kindern bekämpfen. Die Bundesrepublik braucht aber primär
nicht „mehr Kinder“, sondern weniger Kinder, die in
Armut, Not und Elend aufwachsen.
Dabei beeinträchtigen
die negativen Auswirkungen von „Sparmaßnahmen“ im
Jugend-, Sozial- und Gesundheitsbereich wie auch bei den Zuschüssen
zum öffentlichen Nahverkehr (Kürzung der so genannten
Regionalisierungsmittel schon heute massiv die künftigen
Generationen. Diese Tendenz wird noch erheblich forciert durch die
geplante Beschneidung der Bundeskompetenzen im Bildungsbereich, weil
die fest verabredete Föderalismusreform mit dem
„Wettbewerbsföderalismus“ einer desaströsen
Konkurrenz zwischen den Bundesländern nunmehr Tür und Tor
öffnet. Diese schadet besonders den (Hoch-)Schülern in
finanzschwachen Ländern, nicht zuletzt, da gute Lehrkräfte
leichter abgeworben werden können.
Auch die angestrebte
Verbesserung der steuerlichen Absetzbarkeit von
Kinderbetreuungskosten spricht jedem sozialen Empfinden Hohn:
Während sozial benachteiligte Familien, die aufgrund ihres
fehlenden oder zu geringen Einkommens keine Steuern zahlen, überhaupt
nicht in den Genuss dieser Maßnahme kommen, profitieren jene
Besserverdienenden überdurchschnittlich davon, die sich eine
Tagesmutter oder Kinderfrau leisten und dank des im März 2006
verabschiedeten Gesetzes zur steuerlichen Förderung von Wachstum
und Beschäftigung die Aufwendungen dafür bis zum
Höchstbetrag von 4000 Euro absetzen können.
Obwohl
das künftig an die Stelle des Erziehungsgeldes tretende,
einkommensabhängige und erst bei 1800 Euro pro Monat gedeckelte
Elterngeld in Höhe von 67 Prozent des Netto-Erwerbseinkommens
schließlich doch nicht – wie ursprünglich von der
CSU verlangt – auf die Sozialhilfe bzw. das Arbeitslosengeld II
angerechnet werden wird, haben die Schlechtergestellten unter den
Beziehern hiervon ausschließlich Nachteile. Denn bisher wurde
ihnen das Erziehungsgeld zwei Jahre lang in Höhe von 300 Euro
pro Monat oder (als so genanntes Budget) ein Jahr lang in Höhe
von 450 Euro gezahlt.
Das künftige Elterngeld gibt es
dagegen grundsätzlich nur für ein Jahr (zuzüglich
zweier „Partnermonate“). Der Sockelbetrag, mit dem
Sozialhilfebezieher, Arbeitslose und Geringverdiener auskommen
müssen, liegt bei lediglich 300 Euro.
Also erhalten
Gutbetuchte auf Kosten der Geringverdienerinnen zukünftig mehr
(Eltern-)Geld, das vor allem hochqualifizierte, gut verdienende
Frauen motivieren soll, (mehr) Kinder zu bekommen und anschließend
schneller wieder in den Beruf zurückzukehren.
Das
Elterngeld ist somit ein „sozialpolitisches Paradox“,
weil der Staat damit – sieht man von steuerlichen Freibeträgen
ab – erstmals ausgerechnet jene Anspruchsberechtigten am
meisten subventioniert, die es am wenigsten nötig
haben.
Schweden, das in diesem Zusammenhang gern als Vorbild
genannt wird, hat das Elterngeld zwar schon 1973/74 eingeführt,
den Grundbetrag für die nicht erwerbstätigen Mütter
gegenüber der bis dahin gültigen Regelung
(Mutterschaftsgeld) jedoch gleichzeitig deutlich erhöht. Bei dem
dortigen Elterngeld handelt es sich um eine an die
Krankenversicherung gekoppelte Versicherungsleistung: Wer gut
verdient und viel in die Elternversicherung eingezahlt hat, bekommt
völlig zu Recht auch mehr ausgezahlt, sobald er oder sie ein
Kind erzieht. Bei uns hingegen könnte die Kopplung des
Elterngeldes an die Höhe des Einkommens noch einen weiteren
paradoxen Effekt haben: Gerade gut ausgebildete Eltern dürften
versucht sein, mit der Fortpflanzung so lange zu warten, bis sie die
erwünschte lohnende Einkommenshöhe erzielt haben, die
anschließend im Umfang von 67 Prozent durch das Elterngeld
weitergezahlt wird.
Ein wirksamer Anreiz zur früheren
Elternschaft sieht anders aus.
Ungeachtet dieser völlig
kontraproduktiven Nebeneffekte rufen nicht nur Konservative bereits
nach einem zusätzlichen Ausbau des Ehegatten- zum
Familiensplitting, was dessen unsoziale Verteilungswirkung
noch potenzieren würde: Wer gut verdient und viele Kinder hat,
müsste gar keine Steuern bezahlen; wer ebenfalls reichlich
Nachwuchs hat, aber ein niedriges Einkommen, ginge einmal mehr leer
aus.
Offensichtlich erscheint vielen gegenwärtig, da sich
die demographischen Horrorszenarien zunehmend zur medialen Hysterie
steigern, die Gelegenheit besonders günstig, um auch noch den
letzten Rest an Steuergerechtigkeit über Bord zu werfen.
Wollte man die Kinderarmut, wohlgemerkt: die Armut von,
nicht primär an Kindern, dagegen wirklich verringern,
wäre ein familien- und sozialpolitischer Paradigmawechsel nötig:
Eltern mit den niedrigsten Einkommen und den geringsten
Handlungsmöglichkeiten müsste die Regierung am stärksten
unterstützen. Erforderlich wäre deshalb erstens eine
bedarfsorientierte soziale Grundsicherung, die sich auf Familien zu
konzentrieren hätte, deren Kinder kaum Entwicklungs- und
Entfaltungschancen haben.
Da außerdem noch immer eine
gute öffentliche Infrastruktur fehlt, die es auch
Alleinerziehenden erlauben würde, neben der Familien- noch
Erwerbsarbeit zu leisten, liegt hier ein zweiter zentraler
politischer Schlüssel zur Bekämpfung von Kinderarmut. Mehr
Ganztagsschulen sowie (möglichst beitragsfreie) Krippen-
Kindergarten- und Hortplätze hätten zudem eine
Doppeleffekt:
Einerseits könnten von Armut betroffene oder
bedrohte Kinder umfassender betreut, systematischer gefördert
und gesünder ernährt werden, andererseits (beide) Eltern
leichter einer Vollzeitbeschäftigung nachgehen und finanzielle
Probleme besser meistern.
Nötig ist schließlich
drittens eine Strukturreform, die der sozialen Selektion durch das
gegliederte deutsche Schulsystem ein Ende bereiten müsste. In
einer „Schule für alle“ wäre kein Platz für
die frühzeitige Aussonderung von „dummen“ Kindern,
die in Wahrheit arm sind bzw. aus „Problemfamilien“
stammen. Mit einer inklusive Pädagogik, die keine
„Sonderbehandlung“ für bestimmte Gruppen mehr kennt,
könnte man sozialer Desintegration und damit auch dem Zerfall
unserer Gesellschaft insgesamt entgegenwirken.
Bildungs-,
Familien- und Sozialpolitiker sind also gleichermaßen
gefordert, für alle Menschen befriedigende Lebensverhältnisse
und ein Höchstmaß an Chancengleichheit zwischen Kindern
unterschiedlicher sozialer wie ethnischer Herkunft zu
schaffen.
Bildung ist war keine politische Wunderwaffe im Kampf
gegen Armut, kann aber im viel beschworenen „Zeitalter der
Globalisierung“, wo (Arbeits-)Produktivität und eine hohe
Qualifikation des „Humankapitals“ als positive
Standortfaktoren gelten, zur Erhöhung der Chancen von Kindern
aus sozial benachteiligten Familien beitragen. Gerade wer die
internationale Konkurrenzfähigkeit des „Standortes
Deutschland“ gewährleisten will, wie es die Große
Koalition permanent postuliert, muss deshalb dafür Sorge tragen,
dass alle Gesellschaftsmitglieder ihre Möglichkeiten optimal
nutzen können.
Christoph Butterwegge
Professor und Leiter der Abteilung für Politikwissenschaften an der Universität Köln.