Die
skrupellose Show der USA
Auszüge aus der Nobelvorlesung von Harold Pinter
Der Dramatiker Harold Pinter nimmt kein Blatt vor den Mund. Schonungslos rechnet er mit der Politik der USA seit dem Zweiten Weltkrieg ab. Von Nicaragua bis Guantanamo und Irak reiche die Liste
von deren Untaten.
1958 schrieb ich folgendes:
"Es
gibt keine klaren Unterschiede zwischen dem, was wirklich und dem was
unwirklich ist, genauso wenig wie zwischen dem, was wahr und dem was
unwahr ist. Etwas ist nicht unbedingt entweder wahr oder unwahr; es
kann beides sein, wahr und unwahr."
Ich halte diese
Behauptungen immer noch für plausibel und weiterhin gültig
für die Erforschung der Wirklichkeit durch die Kunst. Als Autor
halte ich mich daran, aber als Bürger kann ich das nicht. Als
Bürger muss ich fragen: Was ist wahr? Was ist unwahr? (...)
Wie
jeder der hier Anwesenden weiß, lautete die Rechtfertigung für
die Invasion des Irak, Saddam Hussein verfüge über ein hoch
gefährliches Arsenal an Massenvernichtungswaffen, von denen
einige binnen 45 Minuten abgefeuert werden könnten, mit
verheerender Wirkung. Man versicherte uns, dies sei wahr. Es war
nicht die Wahrheit. Man erzählte uns, der Irak unterhalte
Beziehungen zu al-Qaida und trage Mitverantwortung für die
Gräuel in New York am 11. September 2001. Man versicherte uns,
dies sei wahr. Es war nicht die Wahrheit. Man erzählte uns, der
Irak bedrohe die Sicherheit der Welt. Man versicherte uns es sei
wahr. Es war nicht die Wahrheit.
Die Wahrheit sieht völlig
anders aus. Die Wahrheit hat damit zu tun, wie die Vereinigten
Staaten ihre Rolle in der Welt auffassen und wie sie sie verkörpern
wollen.
Doch bevor ich auf die Gegenwart zurückkomme,
möchte ich einen Blick auf die jüngste Vergangenheit
werfen; damit meine ich die Außenpolitik der Vereinigten
Staaten seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Ich glaube, wir sind
dazu verpflichtet, diesen Zeitraum zumindest einer gewissen, wenn
auch begrenzten Prüfung zu unterziehen, mehr erlaubt hier die
Zeit nicht.
Jeder weiß, was in der Sowjetunion und in
ganz Osteuropa während der Nachkriegszeit passierte: die
systematische Brutalität, die weit verbreiteten Gräueltaten,
die rücksichtslose Unterdrückung eigenständigen
Denkens. All dies ist ausführlich dokumentiert und belegt
worden.
Aber ich behaupte hier, dass die Verbrechen der USA im
selben Zeitraum nur oberflächlich protokolliert, geschweige denn
dokumentiert, geschweige denn eingestanden, geschweige denn überhaupt
als Verbrechen wahrgenommen worden sind. Ich glaube, dass dies
benannt werden muss, und dass die Wahrheit beträchtlichen
Einfluss darauf hat, wo die Welt jetzt steht. Trotz gewisser
Beschränkungen durch die Existenz der Sowjetunion, machte die
weltweite Vorgehensweise der Vereinigten Staaten ihre Überzeugung
deutlich, für ihr Handeln völlig freie Hand zu
besitzen.
Die direkte Invasion eines souveränen Staates
war eigentlich nie die bevorzugte Methode der Vereinigten Staaten.
Vorwiegend haben sie den von ihnen so genannten "Low Intensity
Conflict" favorisiert. "Low Intensity Conflict"
bedeutet, dass tausende von Menschen sterben aber langsamer als würde
man sie auf einen Schlag mit einer Bombe auslöschen. Es
bedeutet, dass man das Herz des Landes infiziert, dass man eine
bösartige Wucherung in Gang setzt und zuschaut wie der Faulbrand
erblüht. Ist die Bevölkerung unterjocht worden oder
totgeprügelt es läuft auf dasselbe hinaus und sitzen die
eigenen Freunde, das Militär und die großen
Kapitalgesellschaften, bequem am Schalthebel, tritt man vor die
Kamera und sagt, die Demokratie habe sich behauptet. Das war in den
Jahren, auf die ich mich hier beziehe, gang und gäbe in der
Außenpolitik der USA.
Die Tragödie Nicaraguas war
ein hochsignifikanter Fall. Ich präsentiere ihn hier als
schlagendes Beispiel für Amerikas Sicht seiner eigenen Rolle in
der Welt, damals wie heute.
Ende der 80er Jahre nahm ich an
einem Treffen in der amerikanischen Botschaft in London teil. Der
Kongress der Vereinigten Staaten sollte entscheiden, ob man die
Contras in ihrem Feldzug gegen den nicaraguanischen Staat mit mehr
Geld unterstützt. Ich gehörte der Delegation an, die für
Nicaragua sprach, doch das wichtigste Delegationsmitglied war Father
John Metcalf. Der Leiter der amerikanischen Gruppe war Raymond Seitz
(damals nach dem Botschafter die Nummer Zwei, später selber
Botschafter). Father Metcalf sagte: "Sir, ich leite eine
Gemeinde im Norden Nicaraguas. Meine Gemeindeglieder haben eine
Schule gebaut, ein medizinisches Versorgungszentrum, ein
Kulturzentrum. Wir haben in Frieden gelebt. Vor einigen Monaten
griffen Contratruppen die Gemeinde an. Sie zerstörten alles: die
Schule, das medizinische Versorgungszentrum, das Kulturzentrum. Sie
vergewaltigten Krankenschwestern und Lehrerinnen, schlachteten die
Ärzte aufs brutalste ab. Sie benahmen sich wie Berserker. Bitte
fordern Sie, dass die US-Regierung diesen empörenden
terroristischen Umtrieben die Unterstützung entzieht."
Raymond
Seitz besaß einen ausgezeichneten Ruf als rationaler,
verantwortungsbewusster und hoch kultivierter Mann. Er genoss in
diplomatischen Kreisen großes Ansehen. Er hörte genau zu,
zögerte und sprach dann mit großem Ernst. "Father",
sagte er, "ich möchte Ihnen etwas sagen. Im Krieg leiden
immer Unschuldige." Es herrschte eisiges Schweigen. Wir starrten
ihn an. Er zuckte nicht einmal mit der Wimper.
In der Tat,
Unschuldige leiden immer.
Schließlich sagte jemand:
"Aber in diesem Fall waren die ,Unschuldigen' Opfer einer durch
Ihre Regierung subventionierten, entsetzlichen Gräueltat, einer
von vielen. Sollte der Kongress den Contras mehr Geld bewilligen,
wird es zu weiteren Gräueln kommen. Ist dem nicht so? Macht sich
Ihre Regierung damit nicht der Unterstützung von Mordtaten und
Vernichtungswerken schuldig, begangen an Bürgern eines
souveränen Staates?"
Seitz ließ sich durch
nichts erschüttern. "Ich bin nicht der Auffassung, dass die
vorliegenden Fakten Ihre Behauptungen stützen", sagte
er.
Beim Verlassen der Botschaft sagte mir ein US-Berater, er
schätze meine Stücke. Ich reagierte nicht.
Ich darf
Sie daran erinnern, dass Präsident Reagan damals folgendes
Statement abgab: "Die Contras stehen moralisch auf einer Stufe
mit unseren Gründervätern."
Die Vereinigten
Staaten unterstützten die brutale Somoza-Diktatur in Nicaragua
über 40 Jahre. Angeführt von den Sandinisten, stürzte
das nicaraguanische Volk 1979 dieses Regime, ein atemberaubender
Volksaufstand. Die Sandinisten waren nicht vollkommen. Auch sie
verfügten über eine gewisse Arroganz, und ihre politische
Philosophie beinhaltete eine Reihe widersprüchlicher Elemente.
Aber sie waren intelligent, einsichtig und zivilisiert. Sie machten
sich daran, eine stabile, anständige, pluralistische
Gesellschaft zu gründen. Die Todesstrafe wurde abgeschafft.
Hunderttausende verarmter Bauern wurden quasi ins Leben zurückgeholt.
Über 100 000 Familien erhielten Grundbesitz. Zweitausend Schulen
entstanden. Eine äußerst bemerkenswerte
Alphabetisierungskampagne verringerte den Anteil der Analphabeten im
Land auf unter ein Siebtel. Freies Bildungswesen und kostenlose
Gesundheitsfürsorge wurden eingeführt. Die
Kindersterblichkeit ging um ein Drittel zurück. Polio wurde
ausgerottet.
Die Vereinigten Staaten denunzierten diese
Leistungen als marxistisch-leninistische Unterwanderung. Aus Sicht
der US-Regierung war dies ein gefährliches Beispiel. Erlaubte
man Nicaragua, elementare Normen sozialer und ökonomischer
Gerechtigkeit zu etablieren, erlaubte man dem Land, den Standard der
Gesundheitsfürsorge und des Bildungswesens anzuheben und soziale
Einheit und nationale Selbstachtung zu erreichen, würden
benachbarte Länder dieselben Fragen stellen und dieselben Dinge
tun. Damals regte sich natürlich heftiger Widerstand gegen den
in El Salvador herrschenden Status quo.
Ich erwähnte
vorhin das "Lügengespinst", das uns umgibt. Präsident
Reagan beschrieb Nicaragua meist als "totalitären Kerker".
Die Medien generell und ganz bestimmt die britische Regierung
werteten dies als zutreffenden und begründeten Kommentar. Aber
tatsächlich gab es keine Berichte über Todesschwadronen
unter der sandinistischen Regierung. Es gab keine Berichte über
Folterungen. Es gab keine Berichte über systematische oder
offiziell autorisierte militärische Brutalität. In
Nicaragua wurde nie ein Priester ermordet. Es waren vielmehr drei
Priester an der Regierung beteiligt, zwei Jesuiten und ein Missionar
des Maryknoll-Ordens. Die totalitären Kerker befanden sich
eigentlich nebenan in El Salvador und Guatemala. Die Vereinigten
Staaten hatten 1954 die demokratisch gewählte Regierung von
Guatemala gestürzt, und Schätzungen zufolge sollen den
anschließenden Militärdiktaturen mehr als 200 000 Menschen
zum Opfer gefallen sein.
Sechs der weltweit namhaftesten
Jesuiten wurden 1989 in der Central American University in San
Salvador von einem Bataillon des in Fort Benning, Georgia, USA,
ausgebildeten Alcatl-Regiments getötet. Der außergewöhnlich
mutige Erzbischof Romero wurde ermordet, als er die Messe las.
Schätzungsweise kamen 75 000 Menschen ums Leben. Weshalb wurden
sie getötet? Sie wurden getötet, weil sie ein besseres
Leben nicht nur für möglich hielten sondern auch
verwirklichen wollten. Dieser Glaube stempelte sie sofort zu
Kommunisten. Sie starben, weil sie es wagten, den Status quo infrage
zu stellen, das endlose Plateau von Armut, Krankheit, Erniedrigung
und Unterdrückung, das ihr Geburtsrecht gewesen war.
Die
Vereinigten Staaten stürzten schließlich die
sandinistische Regierung. Es kostete einige Jahre und beträchtliche
Widerstandskraft, doch gnadenlose ökonomische Schikanen und 30
000 Tote untergruben am Ende den Elan des nicaraguanischen Volkes. Es
war erschöpft und erneut verarmt. Die Casinos kehrten ins Land
zurück. Mit dem kostenlosen Gesundheitsdienst und dem freien
Schulwesen war es vorbei. Das Big Business kam mit aller Macht
zurück. Die ,Demokratie' hatte sich behauptet.
Doch diese
"Politik" blieb keineswegs auf Mittelamerika beschränkt.
Sie wurde in aller Welt betrieben. Sie war endlos. Und es ist, als
hätte es sie nie gegeben.
Nach dem Ende des 2. Weltkriegs
unterstützten die Vereinigten Staaten jede rechtsgerichtete
Militärdiktatur auf der Welt, und in vielen Fällen brachten
sie sie erst hervor. Ich verweise auf Indonesien, Griechenland,
Uruguay, Brasilien, Paraguay, Haiti, die Türkei, die
Philippinen, Guatemala, El Salvador und natürlich Chile. Die
Schrecken, die Amerika Chile 1973 zufügte, können nie
gesühnt und nie verziehen werden. In diesen Ländern hat es
Hunderttausende von Toten gegeben. Hat es sie wirklich gegeben? Und
sind sie wirklich alle der US-Außenpolitik zuzuschreiben? Die
Antwort lautet ja, es hat sie gegeben, und sie sind der
amerikanischen Außenpolitik zuzuschreiben. Aber davon weiß
man natürlich nichts.
Es ist nie passiert. Nichts ist
jemals passiert. Sogar als es passierte, passierte es nicht. Es
spielte keine Rolle. Es interessierte niemand. Die Verbrechen der
Vereinigten Staaten waren systematisch, konstant, infam,
unbarmherzig, aber nur sehr wenige Menschen haben wirklich darüber
gesprochen. Das muss man Amerika lassen. Es hat weltweit eine
ziemlich kühl operierende Machtmanipulation betrieben, und sich
dabei als Streiter für das universelle Gute gebärdet. Ein
glänzender, sogar geistreicher, äußerst erfolgreicher
Hypnoseakt.
Ich behaupte, die Vereinigten Staaten ziehen die
größte Show der Welt ab, ganz ohne Zweifel. Brutal,
gleichgültig, verächtlich und skrupellos, aber auch
ausgesprochen clever. Als Handlungsreisende stehen sie ziemlich
konkurrenzlos da, und ihr Verkaufsschlager heißt Eigenliebe.
Ein echter Renner. Man muss nur all die amerikanischen Präsidenten
im Fernsehen die Worte sagen hören: "das amerikanische
Volk", wie zum Beispiel in dem Satz: "Ich sage dem
amerikanischen Volk, es ist an der Zeit, zu beten und die Rechte des
amerikanischen Volkes zu verteidigen, und ich bitte das amerikanische
Volk, den Schritten ihres Präsidenten zu vertrauen, die er im
Auftrag des amerikanischen Volkes unternehmen wird."
Ein
brillanter Trick. Mit Hilfe der Sprache hält man das Denken in
Schach. Mit den Worten "das amerikanische Volk" wird ein
wirklich luxuriöses Kissen zur Beruhigung gebildet. Denken ist
überflüssig. Man muss sich nur ins Kissen fallen lassen.
Möglicherweise erstickt das Kissen die eigene Intelligenz und
das eigene Urteilsvermögen, aber es ist sehr bequem. Das gilt
natürlich weder für die 40 Millionen Menschen, die unter
der Armutsgrenze leben, noch für die zwei Millionen Männer
und Frauen, die in dem riesigen Gulag von Gefängnissen
eingesperrt sind, der sich über die Vereinigten Staaten
erstreckt.
Den Vereinigten Staaten liegt nichts mehr am low
intensity conflict. Sie sehen keine weitere Notwendigkeit, sich
Zurückhaltung aufzuerlegen oder gar auf Umwegen ans Ziel zu
kommen. Sie legen ihre Karten ganz ungeniert auf den Tisch. Sie
scheren sich einen Dreck um die Vereinten Nationen, das Völkerrecht
oder kritischen Dissens, den sie als machtlos und irrelevant
betrachten. Sie haben sogar ein kleines, blökendes Lämmchen,
das ihnen an einer Leine hinterher trottelt, das erbärmliche und
abgeschlaffte Großbritannien.
Was ist aus unserem
sittlichen Empfinden geworden? Hatten wir je eines? Was bedeuten
diese Worte? Stehen sie für einen heutzutage äußerst
selten gebrauchten Begriff - Gewissen? Ein Gewissen nicht nur
hinsichtlich unseres eigenen Tuns sondern auch hinsichtlich unserer
gemeinsamen Verantwortung für das Tun anderer? Ist all das tot?
Nehmen wir Guantanamo Bay. Hunderte von Menschen, seit über drei
Jahren ohne Anklage in Haft, ohne gesetzliche Vertretung oder
ordentlichen Prozess, im Prinzip für immer inhaftiert. Diese
absolut rechtswidrige Situation existiert trotz der Genfer Konvention
weiter. Die so genannte "internationale Gemeinschaft"
toleriert sie nicht nur, sondern verschwendet auch so gut wie keinen
Gedanken daran. Diese kriminelle Ungeheuerlichkeit begeht ein Land,
das sich selbst zum "Anführer der freien Welt"
erklärt. Denken wir an die Menschen in Guantanamo Bay? Was
berichten die Medien über sie? Sie tauchen gelegentlich auf -
eine kleine Notiz auf Seite sechs. Sie wurden in ein Niemandsland
geschickt, aus dem sie womöglich nie mehr zurückkehren.
(...) Was hat der britische Außenminister dazu gesagt? Nichts.
Was hat der britische Premierminister dazu gesagt? Nichts. Warum
nicht? Weil die Vereinigten Staaten gesagt haben: Kritik an unserem
Vorgehen in Guantanamo Bay stellt einen feindseligen Akt dar. Ihr
seid entweder für uns oder gegen uns. Also hält Blair den
Mund.
Die Invasion des Irak war ein Banditenakt, ein Akt von
unverhohlenem Staatsterrorismus, der die absolute Verachtung des
Prinzips von internationalem Recht demonstrierte. Die Invasion war
ein willkürlicher Militäreinsatz, ausgelöst durch
einen ganzen Berg von Lügen und die üble Manipulation der
Medien und somit der Öffentlichkeit; ein Akt zur Konsolidierung
der militärischen und ökonomischen Kontrolle Amerikas im
mittleren Osten unter der Maske der Befreiung, letztes Mittel,
nachdem alle anderen Rechtfertigungen sich nicht hatten rechtfertigen
lassen. Eine beeindruckende Demonstration einer Militärmacht,
die für den Tod und die Verstümmelung abertausender
Unschuldiger verantwortlich ist.
Wir haben dem irakischen Volk
Folter, Splitterbomben, abgereichertes Uran, zahllose, willkürliche
Mordtaten, Elend, Erniedrigung und Tod gebracht und nennen es "dem
mittleren Osten Freiheit und Demokratie bringen".
Wie
viele Menschen muss man töten, bis man sich die Bezeichnung
verdient hat, ein Massenmörder und Kriegsverbrecher zu sein?
Einhunderttausend? Mehr als genug, würde ich meinen. Deshalb ist
es nur gerecht, dass Bush und Blair vor den Internationalen
Strafgerichtshof kommen. Aber Bush war clever. Er hat den
Internationalen Strafgerichtshof gar nicht erst anerkannt. Für
den Fall, dass sich ein amerikanischer Soldat oder auch ein Politiker
auf der Anklagebank wiederfindet, hat Bush damit gedroht, die Marines
in den Einsatz zu schicken. Aber Tony Blair hat den Gerichtshof
anerkannt und steht für ein Gerichtsverfahren zur Verfügung.
Wir können dem Gerichtshof seine Adresse geben, falls er
Interesse daran hat. Sie lautet Number 10, Downing Street,
London.
Der Tod spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle. Für
Bush und Blair ist der Tod eine Lappalie. Mindestens 100 000 Iraker
kamen durch amerikanische Bomben und Raketen um, bevor der irakische
Aufstand begann. Diese Menschen sind bedeutungslos. Ihr Tod existiert
nicht. Sie sind eine Leerstelle. Sie werden nicht einmal als tot
gemeldet. "Leichen zählen wir nicht", sagte der
amerikanische General Tommy Franks.
Ganz zu Beginn der
Invasion veröffentlichten die britischen Zeitungen auf der
Titelseite ein Foto von Tony Blair, der einen kleinen irakischen
Jungen auf die Wange küsst. "Ein dankbares Kind",
lautete die Überschrift. Einige Tage später gab es auf
einer Innenseite einen Bericht und ein Foto von einem anderen
vierjährigen Jungen, ohne Arme. Eine Rakete hatte seine Familie
in die Luft gesprengt. Er war der einzige Überlebende. "Wann
bekomme ich meine Arme wieder?" fragte er. Der Bericht wurde
nicht weiter verfolgt. Nun, diesen Jungen hielt auch nicht Tony Blair
in den Armen, weder ihn noch sonst ein anderes verstümmeltes
Kind oder irgendeine blutige Leiche. Blut ist schmutzig. Es
verschmutzt einem Hemd und Krawatte, wenn man eine aufrichtige
Ansprache im Fernsehen hält.
Die 2000 toten Amerikaner
sind peinlich. Sie werden bei Dunkelheit zu ihren Gräbern
transportiert. Die Beerdigungen finden dezent statt, an einem
sicheren Ort. Die Verstümmelten verfaulen in ihren Betten,
manche für den Rest ihres Lebens. Die Toten und die
Verstümmelten verfaulen beide, nur in unterschiedlichen
Gräbern.(...)
Ich sagte vorhin, die Vereinigten Staaten
würden ihre Karten jetzt völlig ungeniert auf den Tisch
legen. Dem ist genau so. Ihre offiziell verlautbarte Politik
definiert sich jetzt als "full spectrum dominance". Der
Begriff stammt nicht von mir sondern von ihnen. "Full spectrum
dominance" bedeutet die Kontrolle über Land, Meer, Luft und
Weltraum, sowie aller zugehörigen Ressourcen.
Die Vereinigten
Staaten besitzen, über die ganze Welt verteilt, 702 militärische
Anlagen in 132 Ländern, mit der rühmlichen Ausnahme
Schwedens natürlich. Wir wissen nicht ganz genau, wie sie da
hingekommen sind, aber sie sind jedenfalls da.
Die Vereinigten
Staaten verfügen über 8000 aktive und operative
Atomsprengköpfe. Zweitausend davon sind sofort gefechtsbereit
und können binnen 15 Minuten abgefeuert werden. Es werden jetzt
neue Nuklearwaffensysteme entwickelt, bekannt als Bunker-Busters. Die
stets kooperativen Briten planen, ihre eigene Atomrakete Trident zu
ersetzen. Wen, frage ich mich, haben sie im Visier? Osama Bin Laden?
Sie? Mich? Joe Dokes? China? Paris? Wer weiß das schon? Eines
wissen wir allerdings, nämlich dass dieser infantile Irrsinn -
der Besitz und angedrohte Einsatz von Nuklearwaffen - den Kern der
gegenwärtigen politischen Philosophie Amerikas bildet. Wir
müssen uns in Erinnerung rufen, dass sich die Vereinigten
Staaten dauerhaft im Kriegszustand befinden und mit nichts zu
erkennen geben, dass sie diese Haltung aufgeben.
Abertausende
wenn nicht gar Millionen Menschen in den USA sind nachweislich
angewidert, beschämt und erzürnt über das Vorgehen
ihrer Regierung, aber so wie die Dinge stehen, stellen sie keine
einheitliche politische Macht dar - noch nicht. Doch die Besorgnis,
Unsicherheit und Angst, die wir täglich in den Vereinigten
Staaten wachsen sehen können, werden aller Wahrscheinlichkeit
nach nicht schwinden.
Ich weiß, dass Präsident Bush
zahlreiche ausgesprochen fähige Redenschreiber hat, aber ich
möchte mich freiwillig für den Job melden. Ich schlage
folgende kurze Ansprache vor, die er im Fernsehen an die Nation
halten kann. Ich sehe ihn vor mir: feierlich, penibel gekämmt,
ernst, gewinnend, aufrichtig, oft verführerisch, manchmal mit
einem bitteren Lächeln, merkwürdig anziehend, ein echter
Mann.
"Gott ist gut. Gott ist groß. Gott ist gut.
Mein Gott ist gut. Bin Ladens Gott ist böse. Er ist ein böser
Gott. Saddams Gott war böse, wenn er einen gehabt hätte. Er
war ein Barbar. Wir sind keine Barbaren. Wir hacken Menschen nicht
den Kopf ab. Wir glauben an die Freiheit. So wie Gott. Ich bin kein
Barbar. Ich bin der demokratisch gewählte Anführer einer
freiheitsliebenden Demokratie. Wir sind eine barmherzige
Gesellschaft. Wir gewähren einen barmherzigen Tod auf dem
elektrischen Stuhl und durch barmherzige Todesspritzen. Wir sind eine
große Nation. Ich bin kein Diktator. Er ist einer. Ich bin kein
Barbar. Er ist einer. Und er auch. Die alle da. Ich besitze
moralische Autorität. Seht ihr diese Faust? Das ist meine
moralische Autorität. Und vergesst das bloß nicht."
Das
Leben eines Schriftstellers ist ein äußerst verletzliches,
fast schutzloses Dasein. Darüber muss man keine Tränen
vergießen. Der Schriftsteller trifft seine Wahl und hält
daran fest. Es stimmt jedoch, dass man allen Winden ausgesetzt ist,
und einige sind wirklich eisig. Man ist auf sich allein gestellt, in
exponierter Lage. Man findet keine Zuflucht, keine Deckung - es sei
denn, man lügt - in diesem Fall hat man sich natürlich
selber in Deckung gebracht und ist, so ließe sich
argumentieren, Politiker geworden. (...)
Blicken wir in einen
Spiegel, dann halten wir das Bild, das uns daraus entgegensieht, für
akkurat. Aber bewegt man sich nur einen Millimeter, verändert
sich das Bild. Wir sehen im Grunde eine endlose Reihe von
Spiegelungen. Aber manchmal muss ein Schriftsteller den Spiegel
zerschlagen - denn von der anderen Seite dieses Spiegels blickt uns
die Wahrheit ins Auge.
Ich glaube, dass den existierenden,
kolossalen Widrigkeiten zum Trotz die unerschrockene, unbeirrbare,
heftige intellektuelle Entschlossenheit, als Bürger die
wirkliche Wahrheit unseres Lebens und unserer Gesellschaften zu
bestimmen, eine ausschlaggebende Verpflichtung darstellt, die uns
allen zufällt. Sie ist in der Tat zwingend notwendig.
Wenn
sich diese Entschlossenheit nicht in unserer politischen Vision
verkörpert, bleiben wir bar jeder Hoffnung, das
wiederherzustellen, was wir schon fast verloren haben - die Würde
des Menschen
© Die Nobelstiftung 2005
Übersetzung
von Michael Walter
Harold Pinter, Nobelpreisträger für Literatur 2005
Als
Horace Engdahl, der Erste Sekretär der Schwedischen Akademie der
Wissenschaften, die Wahl des britischen Dramatikers Harold Pinter zum
Nobelpreisträger des Jahres 2005 bekannt gab, sagte er, Pinter
habe "sich immer mehr politisch begründetem Leid
zugewandt".
Die hier abgedruckte Nobelpreisrede, die Pinter
nicht persönlich halten konnte, bestätigt seinen Zorn. Der
1930 als Sohn armer russisch-jüdischer Eltern in London geborene
und aufgewachsene Pinter beerbte in seinen frühen Stücken
die ästhetische Kargheit eines Kafka und eines Beckett. Zu den
fast 30 Theater- stücken Pinters zählen "Die
Geburtstagsparty" (1958), "Der stumme Diener" (1959)
und "Der Hausmeister" (1960).
Zur Verleihung des
Nobelpreises konnte der schwer krebskranke Pinter nicht nach
Stockholm reisen.