Unser
Sozialstaatsmodell steht auf dem Spiel
In der
gängigen Reformdebatte wird häufig ins Feld geführt,
man wolle den Sozialstaat nicht abschaffen, sondern ihn umbauen. Das
funktioniert in der Praxis jedoch nicht. Es ist wie mit dem
Kinderkriegen: Ein bisschen schwanger sein geht nicht. Das System des
Sozialstaats ist auf die Solidarität aller angewiesen.
Das
bedeutet, dass Ausnahmen von der Verpflichtung, für einander
einzustehen, so gering wie möglich gehalten werden müssen.
Jeder muss sich darauf verlassen können, auf Dauer an der
solidarischen Sicherung teilhaben zu können.
An der
Riester-Rente, die als notwendige Umbaumaßnahme des
Sozialstaats eingeführt wurde, kann man bereits sehen, dass sie
keinen solidarischen Charakter mehr hat. Wer kein Geld hat, das zeigt
die Praxis, kann sich die private Vorsorge nicht leisten. Die
Riester-Rente verbessert die Altersvorsorge deshalb nur für
einen kleinen Teil unserer Gesellschaft. Ist das Umbau?
In
Ländern, die auf Privatvorsorge umgestellt haben, wächst
die Altersarmut, weil Menschen mit niedrigem Einkommen sich keine
vernünftige Privatvorsorge leisten können und/oder weil die
Privatvorsorgesysteme zusammengebrochen sind. Wenn wir diesen Weg
gehen, was sich deutlich abzeichnet, ist das dann Umbau unseres
Sozialstaats?
Wenn demnächst die Pflegeversicherung in
ihrer bisherigen Form aufgelöst wird, richtet sich die
Pflegemöglichkeit in Zukunft eben wieder stärker nach den
finanziellen Möglichkeiten der Pflegebedürftigen und ihrer
Familien. Und wenn die Studiengebühren in Deutschland eingeführt
werden, dann bedeutet dies in der Praxis, dass zunehmend Kinder aus
Familien mit geringen Einkommen und ohne Vermögen und
möglicherweise sogar mit Schulden nicht mehr studieren werden.
Oder mit hohen Schulden ins Berufsleben starten . Ist das Umbau?
Und
wenn immer mehr bisher öffentliche Leistungen privatisiert
werden und am Markt bezahlt werden müssen, dann fällt auch
hier der solidarische Ausgleich weg.
Man kann diese Veränderungen
der Regeln unseres Zusammenlebens nicht mehr mit dem freundlichen
Wort >>Umbau<< bezeichnen, hier geht es um eine
Systemveränderung. Unser bisheriges Sozialstaatsmodell steht auf
dem Spiel.
Artikel 20 des Grundgesetzes garantiert uns,
dass wir in einem sozialen Bundesstaat leben. Daraus leitet sich das
so genannte Sozialstaatsgebot ab. Die inzwischen durchgesetzten
Reformen haben eine Wirklichkeit geschaffen, die diesem
Verfassungsgebot schon nicht mehr entspricht.
Die meisten
Akteure wissen gar nicht, was sie kaputtmachen, weil sie in ihren
Kreisen auf die Vorteile dieses Modells nicht angewiesen sind und es
deshalb nicht zu schätzen wissen. Sie wissen nicht, was
Sozialstaatlichkeit bedeutet, deshalb gehen sie damit so unbekümmert
um.
Besonders prekär ist diese Entwicklung, weil das
sozialstaatliche Modell nicht nur hier bei uns untergraben wird. Auch
in Brüssel, das heißt in der EU, ist vieles darauf
angelegt, die sozialstaatliche Bastion Europa zu schleifen. Das
deutsche und das europäische Sozialstaatsmodell haben in Brüssel
offenbar keine Lobby. Die sogenannte Lissabon-Strategie, mit der die
EU mit einer reihe von maßgeblich neoliberal geprägten
Elementen zum wettbewerbfähigsten und dynamischsten
Wirtschaftsraum der Welt werden will, die Dienstleistungsrichtlinie,
die Ernennung des Portugiesen José Manuel Barroso zum
Kommissionspräsidenten, die Fixierung der Europäischen
Zentralbank auf eine engstirnige monetaristische Linie – all
das zeigt exemplarisch, dass auf EU-Ebene die maßgeblichen
Kräfte nicht mehr für das europäische
Sozialstaatsmodell streiten.
Offenbar sind die Lobbyisten
einer grundlegenden Veränderung in Europa erstaunlich
erfolgreich gewesen. Angelsächsische Berater haben, nachdem sie
in den achtziger Jahren über den Internationalen Währungsfond
(IWF) und die Weltbank Südamerika ruiniert hatten, in den
neunziger Jahren Osteuropa zu ihrer ideologischen Spielwiese gemacht
– mit ähnlich ruinösen Ergebnissen.
Die
innere Entwicklung der neuen Beitrittsländer und anderer
osteuropäischer Staaten ist von der traditionellen
sozialstaatlichen Konzeption Europas nur wenig, dafür um so mehr
von der neoliberalen Ideologie geprägt. Das strahlt wiederum auf
die eher traditionell wohlfahrstaatlichen Länder ab: Immer
wieder werden die Franzosen oder wir Deutsche mit neoliberalen
Rezepturen und ihrer Anwendung in anderen Teilen Europas
konfrontiert.
José Manuel Barroso
Barroso
war in seinen Anfangsjahren als Politiker Funktionär einer
marxistischen Partei. Er ist dann von links unten nach rechts oben
gewandert, ein Vorgang mit Vorbildcharakter für viele Karrieren,
auch in Deutschland.
Dann war Barroso Chef der
Sozialdemokraten (PSD) in Portugal. Auch an dieser Karrierestufe
lässt sich Interessantes ablesen: Die portugiesischen
Sozialdemokraten sind eine konservative Partei, die sich zum Schein
diesen Namen gegeben hat. Als Ministerpräsident machte er in
Portugal von 2002 bis 2004 die typische neoliberale Sparpolitik, er
verdoppelte die Arbeitslosenzahlen und unterstützte Bush im
Irak-Krieg. 2004 verlor er die Wahlen – und fiel die Treppe
hoch, wie es – siehe Hans Eichel und Peer Steinbrück –
fast schon typisch ist für neoliberal beflügelte Karrieren
von Wahlverlierern. Vierzehn Tage nach der verlorenen Wahl wurde
Barroso vom EU-Gipfel zum neuen Präsidenten der Europäischen
Kommission auserkoren.
Da sitzt er nun als verlängerter
Arm der USA in der wichtigsten Funktion, die Europa zu vergeben hat,
und ruft auf zur Reform der Sozialsysteme in Europa. Durch
Modernisierung würden wir unsere Werte bewahren, heißt es
in den maßgeblichen Papieren der Kommission. Die Steuern sollen
umgestellt werden von direkter Besteuerung, also Einkommens-,
Vermögen – und Gewinnsteuer, auf Verbrauchssteuern und
Umweltsteuern. Es soll weiter privatisiert und liberalisiert werden,
zum Beispiel mit einem Instrument wie der
Dienstleistungsrichtlinie.
In den Äußerungen von
Barroso und seiner Kommission ist wenig, fast nichts zu spüren
vom eigentlichen Charakter eines Modells, das bisher in vielen
Ländern Europas, wenn auch in vielen Variationen, gültig
war: ein Modell mit starken solidarischen Akzenten und dem Wissen,
dass ein starker Staat im Interesse aller und vor allem auch der
Schwächeren ist.
Albecht Müller in
seinem Buch Machtwahn – wie eine mittelmäßige Elite
unser Land ruiniert