Höchste
Zeit, Verrat zu begehen
Die US-Regierung hegt die Absicht,
den Iran mit Atomwaffen anzugreifen. Daniel Ellsberg fordert Beamte
und Militärs auf, ihr Schweigen endlich zu brechen und ihr
Wissen offen zu legen, um Menschenleben zu retten.
Daniel Ellsberg wirbt für mehr Mut (rtr)
"Es
war noch nie richtig zu behaupten, ein Atomkrieg sei ,undenkbar'",
schrieb der Historiker EP Thompson vor 25 Jahren. "Atomkriege
wurden gedacht und geführt." Er bezog sich auf die bewusste
Vernichtung der Menschen von Hiroshima und Nagasaki im August 1945.
Was er nicht erwähnt, ist, dass die große Mehrzahl der
US-amerikanischen Beamten, die diese Vernichtung erdacht und
ausgeführt hatten, und ebenso die große Mehrheit der
amerikanischen Öffentlichkeit, die nach der Bombardierung davon
erfuhr, den ersten Atomkrieg als außerordentlich erfolgreich
ansah. Man sah darin - zu unrecht, wie ich meine - einen Schlüssel
zum Sieg, der viele Leben rettete. Heute denken wieder manche so und
handeln danach.
US-Präsident George W. Bush und
Vizepräsident Richard Cheney hegen solche Gedanken seit
mindestens 18 Monaten. Sie haben ihre Militärstäbe
insgeheim angewiesen, mögliche Atomangriffe auf unterirdische
Atomenergie-Anlagen im Iran zu planen, ebenso wie umfassende
konventionelle Luftangriffe auf überirdische militärische
Energie-Anlagen und Kommando-Posten.
Langfassung
als Word-Dokument (39 KB)
Philip
Giraldi, ein ehemaliger CIA-Mitarbeiter, hat vor einem Jahr im
American Conservative berichtet, das Büro von
Vizepräsident Cheney habe Kontingenzpläne für einen
"Luftangriff in großem Maßstab auf Iran sowohl mit
konventionellen Waffen als auch mit taktischen Nuklearwaffen" in
Auftrag gegeben. "Mehrere hochrangige Offiziere der Air Force",
die an der Planung beteiligt seien, seien "erschüttert über
die Implikationen ihrer Arbeit - dass nämlich ein nicht
provozierter Angriff mit Atomwaffen auf den Iran in Planung ist -,
doch niemand wolle durch Widerspruch seine Karriere
gefährden".
Seymour Hersh und andere haben in
mehreren Artikeln in diesem Jahr durch ungenannte, aber hochrangige
Quellen bestätigt, dass es detaillierte Planungen für den
Einsatz von Nuklearwaffen gegen unterirdische iranische Anlagen gibt
und dass sich dagegen im US-Militär Widerstand regt. Einige
hochrangige Offiziere denken über ihren Rücktritt nach
(Hersh sagt nicht, ob vor oder nach einem solchen Angriff). Der
Widerstand der Joint Chiefs im April hat das Weiße Haus dazu
gebracht, die nukleare Option fürs erste vom Tisch zu nehmen, so
Hersh. Die operative Planung - also nicht nur hypothetische
Kontingenzpläne, sondern ständig aktualisierte Pläne
mit Truppenbewegungen und einem hohen Bereitschaftsstatus, die auf
Kommando sofort umgesetzt werden können - gibt es aber nach wie
vor, damit man für einen "entscheidenden" Schlag auf
sie zurückgreifen kann, wenn der Präsident es für
nötig hält. Eine solche Eskalation scheint mir am
wahrscheinlichsten nach einem iranischen Vergeltungsschlag, der nach
einem amerikanischen und/oder israelischen Angriff unvermeidlich
wäre.
Nach diesen Berichten sind viele hohe Offiziere und
Regierungsbeamte überzeugt, das Präsident Bush vor dem Ende
seiner Amtszeit in zwei Jahren einen Regime -Wechsel im Iran
anstrebt. Er und sein Vizepräsident seien dazu insgeheim nicht
weniger entschlossen als sie es zu einem Angriff auf den Irak waren.
Trotz des Machtwechsels im Kongress und des Abgangs des
Verteidigungsministers Donald Rumsfeld - beides erklärt sich
gleichermaßen aus der Enttäuschung der Öffentlichkeit
über das andauernde Desaster im Irak - bleibe beider
Entschlossenheit unvermindert. Wenn überhaupt, dann hat die
"Enttäuschung" im Irak, die sie unrealistischerweise
vor allem auf iranische Aktivitäten zurückführen, die
beiden letzten verbliebenen Neokons in der Regierung in ihrer
Hoffnung noch bestärkt, sie könnten mit einem Angriff auf
den Iran das Steuer in der Region noch herumreißen und so ein
positives Vermächtnis hinterlassen.
Der Autor
Daniel
Ellsberg hat in diesem Jahr den alternativen Nobelpreis erhalten. Der
US-Ökonom deckte in den 70er Jahren im Pentagon einen Skandal
auf. Damit war er der erste "Wistleblower", ein Mensch, der
skandlöse Dienstgeheimnisse verrät, um der Demokratie zu
dienen.
Den dokumentierten Beitrag hielt Ellsberg am
Dienstagabend im Körber Forum der Hamburger Körber-Stiftung.
Die Übersetzung besorgte Thomas Weihe.
James Baker und
Robert Gates sehen das offensichtlich anders - ihre Vorschläge
direkter Gespräche mit Iran und Syrien deuten in die
entgegengesetzte Richtung. Aber von den 79 Empfehlungen der von ihnen
geleiteten Iraq Study Group hat Präsident Bush diese als erste
entschieden zurückgewiesen. Wer hofft, dass Gates Zivilcourage
zeigt, indem er dem Präsidenten in dieser entscheidenden Frage
widerspricht, setzt seine Hoffnungen auf den Falschen. Gates' gesamte
Karriere gründet sich auf sklavische Anpassung an die Wünsche
seines Chefs, wer immer das auch ist und wie unsinnig oder illegal
seine Anweisungen auch sein mögen. Wenn die bisher anonym
gebliebenen Quellen ihre Aussagen ernst meinen - eine erklärte
gegenüber Hersh, man müsse "einen Schnellzug stoppen"
- dann sollten sie schleunigst mehr tun, als nur fragmentarische
Informationen der Presse zuzuspielen, die durch keinerlei Dokumente
gestützt werden. Sie müssen den Dienstweg verlassen und mit
eindeutigen Beweismitteln aus ihren Häusern die Geheimpläne
für eine Aggression offen legen, deren Auswirkungen verheerend
wären. Für Beamte, die zurecht "erschüttert"
sind über solche geheimen Vorstöße, ist es nicht
genug, anonyme Hinweise zu geben oder im Stillen ihre Kündigung
einzureichen.
Das selbe gilt meiner Meinung nach für
Diplomaten und Militärs in der Nato - auch für Deutsche -,
die in solche Pläne eingeweiht wurden, entweder über eigene
Kanäle oder durch Kontakte mit amerikanischen Beamten.
Ich
hoffe, dass einer oder mehrere dieser Leute den nüchternen
Entschluss treffen, der Öffentlichkeit umfassende Unterlagen
zugänglich zu machen, die zweifelsfrei belegen, dass es geheime
offizielle Schätzungen der Kosten, Erfolgsaussichten und
Gefahren militärischer Pläne gibt, und dass das Weiße
Haus zur Umsetzung dieser Pläne entschlossen ist. Ein solcher
Entschluss muss in der nüchternen Anerkennung der Tatsache
getroffen werden, dass man damit seine Sicherheitseinstufung, seine
Karriere oder sogar Gefängnis riskiert. Die zu
veröffentlichenden Dokumente müssen die gesamte interne und
alliierte militärische und diplomatische Kontroverse offen
legen, sowohl die geheimen Widersprüche als auch die Argumente
der Fürsprecher eines Kriegs und der nuklearen "Option"
- die Pentagon Papers und die Downing Street Memos des Mittleren
Ostens.
Aber im Unterschied zu den 7000 streng geheimen Seiten
der Pentagon Papers, die ich 1971 veröffentlicht habe, sollte
die derzeitige geheime Debatte veröffentlicht werden, bevor der
amerikanische Krieg in der Region sich auf den Iran ausweitet und
bevor das 61 Jahre dauernde Moratorium eines Atomkriegs gewaltsam
beendet wird. Nur so haben die Demokratie und die öffentliche
Meinung der Welt eine Chance, diese Katastrophen zu verhindern.
Hätten die britischen Beamten mit Zugang zu den Downing Street
Memos - die schon seit Anfang 2002 über die geheime
Entschlossenheit des Weißen Hauses zu einem Angriff auf den
Irak ebenso berichteten wie über den Beschluss
"Geheimdienstmaterial entsprechend dieser Politik zu
arrangieren" und über die britische Skepsis gegenüber
diesen Plänen - wenn also Beamte mit Zugang zu diesen Memos
diese zum Zeitpunkt ihrer Abfassung Mitte 2002 der Presse übergeben
hätten, anstatt bis 2005 zu warten, hätte der Krieg
vielleicht ganz verhindert werden können.
Die
persönlichen Gefahren für jemand, der Geheimdokumente zur
rechten Zeit veröffentlicht, sind sehr groß. In meinem
eigenen Fall drohte, und das war mir klar gewesen, eine Anklage und
die Höchststrafe von 115 Jahren Gefängnis. Aber diese
Gefahren sind nicht so groß wie die Gefahren für Leib und
Leben von über 140 000 jungen Amerikanern und Soldaten der
Koalitionstruppen im Irak, die wir täglich aufs Spiel setzen.
Und vor allem sind sie nicht so groß wie die Gefahr möglicher
Angriffe für Iraner, vor allem für die über zwei
Millionen Zivilisten, die durch den Fall-Out von nur drei
bunkerbrechenden Atombomben sterben würden. (…)
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Copyright © FR online 2006
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erstellt am 12.12.2006 um 16:08:01 Uhr
Letzte Änderung am
12.12.2006 um 16:52:20 Uhr
Erscheinungsdatum 13.12.2006