Teil II
Die Sache mit der überflüssigen Bevölkerung
In einer Untersuchung des
chilenischen „Wirtschaftswunders“ findet die
Lateinamerikanistin Cathy Schneider über typische
Begleiterscheinungen von Marktreformen – zunehmende Armut und
Ungleichheit – hinaus noch tiefergehende Veränderungen:
„Die
Transformation des wirtschaftlichen und politischen Systems hat die
Weltsicht des typischen Chilenen stark verändert. Heute arbeiten
die meisten Chilenen, ob im eigenen kleinen Geschäft oder auf
der Basis von zeitlich befristeter Subkontrakten, allein. Sie können
nur auf ihre eigene Initiative und auf die Expansion der Wirtschaft
vertrauen. Sie haben kaum noch Kontakte zu anderen Abeitern oder zu
ihren Nachbarn und nur noch begrenzte Zeit für ihre
Familie.
Politisch oder gewerkschaftlich sind sie kaum
organisiert, abgesehen von einigen staatlichen Dienstleistungen wie
dem Gesundheitswesen“ – das die Faschisten aufgrund von
Widerständen in der Bevölkerung nicht beseitigen konnten –
„fehlen ihnen Ressourcen oder die Neigung, sich mit staatlichen
Gegebenheiten auseinanderzusetzen. Die Fragmentierung der
Opposition hat erreicht, was die brutale militärische
Unterdrückung nicht leisten konnte: Chile ist kulturell und
politisch, von einem Land mit aktiven Bewegungen und Organisationen
zu einem Land vereinzelter, entpolitisierter Individuen geworden. Der
kumulative Einfluß dieses Wandels lässt befürchten,
daß wir in naher Zukunft wohl keine konzertierte Opposition
erleben werden, die der augenblicklich herrschenden Ideologie
Widerstand entgegensetzen könnte.“
So haben die
Marktreformen ihren Zweck erfüllt und einer funktionierenden
Demokratie das Wasser abgegraben. Ähnliche Vorgänge spielen
sich in der US-amerikanischen Arbeiterklasse ab, wo die Menschen, die
einst mutig und erfolgreich für soziale Gerechtigkeit und
Menschenrechte kämpften, jetzt ohne Hoffnung und demoralisiert
dahinleben.
Und das gilt
auch für einst lebendige sozialdemokratische Traditionen wie in
Costa Rica oder Neuseeland. Hier wie dort hat der
Marktfundamentalismus grundlegende Werte wie „Mitgefühl“,
„Sinn für soziale Verpflichtungen“ und „Sympathie“
– Werte, die eine Gesellschaft erst eigentlich lebenswert
machen – untergraben oder ganz zum Verschwinden gebrach und an
ihre Stelle „wirtschaftliche Rationalität“ und
„effektive Verwendung von Ressourcen“ natürlich im
Interesse der Reichen und Mächtigen, gesetzt.
Weder im
eigenen Land noch jenseits der Grenzen gleicht die wirkliche Welt den
jetzt modischen Träumen von einer Geschichte, die sich
unaufhaltsam auf das Ideal einer Verbindung von freiem Markt und
Demokratie zubewegt. Vielmehr bringt die Neue Weltordnung jene
Tendenzen zum Vorschein, die sich in den letzten zwanzig Jahre
entwickelt haben und in dem Grundsatz kulminieren, daß die Welt
von Reichen für die Reichen beherrscht und verwaltet wird.
Alle
Versuche, die Armen davon zu überzeugen, daß sie
weitergehende Rechte hätten, sind >>von Übel<<
und Verletzungen der >>natürlichen Freiheit<<,
behauptet Ricardo, der führende Vertreter der neuen
>>wissenschaftlichen Ökonomie<<, die auf
unwiderleglichen moralischen Grundsätzen beruhen sollte.
In
nichts entspricht das Weltwirtschaftsystem dem klassischen Markt;
angemessener wäre der Begriff
>>Konzernmerkantilismus<<.
Zusehends geraten die
Herrschaftsmechanismen in die Hände großer
Privatorganisationen und ihrer Vertreter. Diese Organisationen sind
(..) ihrem Charakter nach totalitär; die Machtstrukturen
verlaufen von oben nach unten, und die Öffentlichkeit ist von
allen Verfahren und Entscheidungen ausgeschlossen. In dem
diktatorischen System namens >> freies Unternehmertum<<
ist die Macht über alle Entscheidungen, die Investitionen,
Produktion und Handel betreffen, zentralisiert und sakrosankt und
schon vom Gesetz her keiner Kontrolle seitens der arbeitenden
Bevölkerung unterworfen.
Das gegenwärtige Zeitalter
weckt Erinnerungen an bedeutsame Epochen der Vergangenheit. Ein
Beispiel dafür ist der begeisterte Rückgriff auf klassische
(heute>> neoliberal<< genannte) Wirtschaftsdoktrinen als
Waffe im Klassenkampf.
Ein anderes Beispiel sind die neuen
Technologien, mit deren Hilfe eine Art >>Fortschritt ohne
Menschen<< geschaffen werden soll. Wie in den Anfängen der
industriellen Revolution dient die Technologie der Mehrung von
Macht, Profiten und Kontrolle zu Lasten sinnvoller Arbeit, Freiheit,
menschlichen Lebens und Wohlfahrt. Während eine andere
gesellschaftliche Verfassung ihr befreiendes Potential entwickeln
könnte. Zudem weckt die gegenwärtig geführte Debatte
über Wohlfahrtsprogramme Erinnerungen an Malthus und
Ricardo, die damals zu beweisen beanspruchten, daß
man den Armen mit Versuchen ihnen zu helfen, nur Schaden zufügen
würde – was so sicher sei, wie das Gravitationsgesetz,
meinte Ricardo. Wer nicht über eigenen Reichtum verfügt,
>> hat keinen Anspruch auf eine und sei es noch so geringe
Portion an Nahrungsmitteln und nicht einmal die Berechtigung, dort zu
sein, wo er ist<< jedenfalls
außerhalb dessen, was ihm
das Anbieten seiner Arbeitskraft auf dem Markt einbringt, erklärte
Malthus in einem einflußreichen Werk.
Alle Versuche, die
Armen davon zu überzeugen, daß sie weitergehende Rechte
hätten, sind >>von Übel<< und Verletzungen der
>>natürlichen Freiheit<<, behauptet Ricardo, der
führende Vertreter der neuen >>wissenschaftlichen
Ökonomie<<, die auf unwiderleglichen moralischen
Grundsätzen beruhen sollte.
Karl Polanyi weist in seiner
klassischen Untersuchung dieser Entwicklungen darauf hin, daß
>>nichts offensichtlicher sein konnte als die herrische
Forderung des Lohnarbeitssystems, das „Recht auf Leben“
zu kassieren<<, ein Recht, das die frühere,
vorkapitalistische Mentalitäten reflektierende Rechtsprechung
noch eingeräumt hatte. >>Späteren Generationen
leuchtet die Unvereinbarkeit von Institutionen wie dem
Lohnarbeitssystem mit dem >Recht auf Leben< unmittelbar ein<<.
Letzteres mußte weichen, im Interesse aller.
In den
dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderst wurden die Resultate der
neuen >>ökonomischen Wissenschaft<< von der
Rechtsprechung ratifiziert, und das >>Recht auf Leben<<
wich dem Lohnarbeitssystem in der wie ein Gefängnis
organisierten Fabrik. >>So wurde die Menschheit auf den Weg
eines utopischen Experiments gezwungen<<, schreibt Polanyi.
>>Wohl nie zuvor in der Geschichte der Moderne gab es eine
rücksichtsloser durchgesetzte gesellschaftliche Reform. Während
sie vorgab, die materielle Überlebensfähigkeit von Menschen
in der Fabrikarbeit zu testen, trug sie zur Zerstörung von Leben
bei. >>Doch unmittelbar darauf<<, fährt er fort,
>>entwickelte die Gesellschaft Selbstschutzmechanismen:
Arbeits- und Sozialgesetze wurden verabschiedet, es entstand die
Abeiterbewegung, politische Parteien bildeten sich, um die neuen
Gefahren, die der Marktmechanismus heraufbeschwor, abzuwehren.
Leid
und Verzweiflung führten zunächst zu Aufständen,
später zum Aufstieg organisierter sozialer Bewegungen, die der
Behauptung, Kapitalakkumulation sei der oberste menschliche Wert,
entschieden entgegentraten.
Schlimmer noch: die
Arbeiterorganisationen bestritten den Herrschenden das recht auf ihre
Herrschaft. >>Die implizite Unterordnung, mit der die Menschen
auf ihre Gefühle und Leidenschaften zugunsten derer ihrer
Herrscher verzichten<< - für David Hume das Fundament der
Regierungsgewalt – wurde untergraben. Das geschah auch in den
Vereinigten Staaten, wo die Folgen der industriellen Revolution von
den Arbeitenden als >>Lohnsklaverei<< bezeichnet
wurden.
Auch hier begannen die Eliteschichten angesichts
aufrührerischer Tendenzen und, schlimmer noch, chartistischer
und sozialistischer Bewegungen, umzudenken. Die >>>neue
Wissenschaft<< entdeckte nun, daß das >>Recht auf
Leben<< sehr wohl bewahrt werden könne und müsse, und
die Lehren des Laisser-faire gerieten zunehmend in Verruf, als die
neuen Herrscher erkannten, daß sie immer noch staatlicher Macht
bedurften, um ihre Privilegien zu sichern und sie vor der Disziplin
des Markts zu schützen. So entwickelte sich, zumindest in den
Staaten, die ihren Platz an der Sonne durch Terror, Unterdrückung
und Ausplünderung erobert hatten, verschiedene Formen des
Wohlfahrtskapitalismus.
In diesem Sinne wiederholt sich die
Geschichte. Die neoliberalen Programme, Trickle-down-Theorien und
andere Doktrinen, die den Interessen der Previligierten und Mächtigen
dienen, bieten nicht viel Neues. Unterdrückungsmechanismen
stellen sich anders dar in der Dritten Welt als im eigenen Land, aber
die Ähnlichkeiten sind unverkennbar, und die begeistert
verkündeten Ideologeme kaum mehr als als eine abgegriffene
Neuauflage früherer Rechtfertigungen bestehender
Machtverhältnisse.
Wie schon zu Beginn des 19.
Jahrhunderts erklärt man uns heute, daß es die natürlichen
Freiheiten verletzt und gegen die Wissenschaft verstößt,
wenn man die Menschen dazu verleitet, sich im Besitz von Rechten zu
wähnen, die über den Verkauf ihrer Arbeitskraft auf dem
Markt hinausgehen. Ein solches Denken führe, verkünden
neoliberale Leitfiguren mit nüchterem Nachdruck, direkt in den
Gulag.
Das gegenwärtige Zeitalter erinnert in vielem an
jene Epoche des Enthusiasmus, die den Lärm der Aufständischen,
der schon bald darauf nicht mehr überhört werden konnte,
noch nicht vernehmen musste.
Und dieser Lärm wächst
auch heute wieder an, trotz weit verbreiteter Furcht und
Verzweiflung. Zwei Ereignisse sind dafür symptomatisch: die
Aufstände von 1992 in Süd Los Angeles und die Revolte der
Maya-Indianer in Chiapas, Mexiko.
In beiden Fällen
spiegelt sich darin die zunehmende Marginalisierung von Menschen, die
unter den gegebenen institutionellen Bedingungen nichts zur
Profitmacherei beitragen und denen darum Menschenrechte oder ein
eigenständiger Wert abgesprochen werden. Die Leute in den Slums
von Los Angeles hatten einstmals Jobs, zum Teil im staatlichen
Sektor, der eine entscheidende Rolle in der
>>marktkapitalistischen<< Gesellschaft spielt, zum Teil
in jenen Fabriken, die später in Regionen verlegt wurden, wo die
Arbeitskräfte rücksichtsloser ausgebeutet und
Umweltschutzmaßnahmen unberücksichtigt bleiben können.
Absolut gesehen sind die Slumbewohner von Los Angeles noch immer
sehr viel reicher als die mexikanischen Indianer, doch entwickelten
sich die Aufstände in jeweils ganz unterschiedlicher Weise. In
Los Angeles rebellierten Menschen, deren Gemeinschaft durch äußere
Faktoren demoralisiert und zerstört worden war, während die
Mayas noch über inneren Zusammenhalt und Vitalität
verfügten.
Aber wie unterschiedlich die Probleme auch
sein mögen, läßt sich der Ruf nach Solidarität
und konstruktiver Beteiligung an politischen und wirtschaftlichen
Entscheidungen nicht mehr überhören. Der Lärm wird
weiter wachsen je mehr das >>globale Experiment<<
fortschreitet.
Wie dieses Experiment beschaffen ist, lässt
sich einem Bericht der US-amerikanischen International Labor
Organisation entnehmen. Sie schätzt, daß im Januar 1994
etwa 30 Prozent aller Arbeitskräfte weltweit ohne Beschäftigung
waren und nicht genug verdienten, um einen minimalen Lebensstandard
aufrechterhalten zu können. Diese >>Langzeitarbeitslosigkeit<<
entspricht in ihrem Umfang der Weltwirtschaftskrise vor dem Zweiten
Weltkrieg. Zugleich gibt es dringenden Bedarf an Arbeitskräften.
Wo man auch hinschaut, gibt es Arbeit, die getan werden müsste,
Arbeit, die großen sozialen und menschlichen Wert besitzt; und
viele Menschen stehen bereit, sie zu leisten. Aber das
Wirtschaftssystem kann hier keine Abhilfe schaffen. Seine Auffassung
von >>wirtschaftlicher Gesundheit<< dient den
Bedürfnissen der Profiteure, nicht denen der Arbeitsuchenden.
Dieses Wirtschaftssystem ist, kurz gesagt, eine einzige Katastrophe.
Als großer Erfolg gilt es nur denen, die darin ihre Privilegien
sichern, wozu auch seine zahlreichen Lobredner gehören.
Wie
weit soll das noch gehen Wird es möglich sein, eine
internationale Gesellschaft zu entwickeln, die in ihren Grundzügen
der Dritten Welt gleicht, mit Inseln von Macht und Reichtum in einem
Meer des Elends, und mit totalitären Kontrollmechanismen hinter
einer zunehmend fassadären Demokratie? Oder wird der Widerstand
der Bevölkerungen, der selbst international werden muß, um
Erfolg zu haben, diese Strukturen von Gewalt und Herrschaft
beseitigen und den jahrhundertealten Prozeß der Ausweitung von
Freiheit, Gerechtigkeit und Demokratie, der jetzt in sein Gegenteil
verkehrt werden soll, doch noch vorantreiben? Das sind die großen
Fragen an die Zukunft.
Vergl. „“World Orders Old an New“ by Noam Chomsky