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Der Staats-Versteher

Von Stephan Hebel


Am Anfang erschien die Sache nicht ganz hoffnungslos. Als Joachim Gauck im März 2012 Bundespräsident wurde, wusste zwar jeder: Das aus DDR-Erfahrung genährte Freiheitspathos des Pastors war nicht gerade von überschäumender Begeisterung für sozialen Ausgleich und Umverteilung begleitet. Aber das höchste Amt im Staate, do die Hoffnung, könne ja in einem Mann dieses intellektuellen Formats einen Lernprozess auslösen. Als Präsident werde er sich schon die Freiheit nehmen, die Regierenden mit den Folgen von 20 Jahren Neoliberalismus zu konfrontieren.

Tatsächlich waren von ihm zunächst Sätze zu hören wie: „Wir dürfen nicht dulden, dass Kinder ihre Talente nicht entfalten können, weil keine Chancengleichheit existiert. Wir dürfen nicht dulden, dass Menschen den Eindruck haben, sie seien nicht Teil unserer Gesellschaft, weil sie arm oder alt oder behindert sind.“ Lang ist es her.

Am vergangenen Sonntag hielt der Bundespräsident beim Kongress des Deutschen Gewerkschaftsbundes eine Rede. Gegen seinen Auftritt wirkte der scheidende DGB-Vorsitzende Michael Sommer, bekanntlich ein braver Brummbär von begrenzter Radikalität, fast schon wie ein charismatischer Revolutionär.

Hätte Gauck doch nur mal die Lohnentwicklung der zurückliegenden Jahrzehnte gegoogelt. Dann hätte er von der gewachsenen Kluft zwischen Gering- und Spitzenverdienern reden können. Er hätte fragen können, was dieser Zustand für die „Chancengleichheit“ bedeutet. Er hätte erwähnen können, dass ein Mindestlohn wie der jetzt diskutierte an diesem Skandal nur sehr begrenzt etwas ändert.

Was er stattdessen zu sagen hatte, war kurz zusammengefasst Folgendes: Da die Politik ja nun „auf Kernanliegen deutscher Gewerkschaften eingeht“ - hier nannte er den Mindestlohn - , sei die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, „eine Chronik der Selbstbefreiung in Etappen“, vollendet.

Wie die Gewerkschaften diesen paradiesischen Zustand erreicht haben, hat Gauck dem DGB auch erklärt: durch eine Kompromisskultur, die ganz offenkundig vor allem darin besteht, die Krise des Kapitals durch Verzicht der Arbeitnehmer zu lindern. „Sie haben gesamtgesellschaftliche Verantwortung bewiesen und Lösungen zur Sicherung der Beschäftigung gefunden: maßvolle Lohnabschlüsse, flexible betriebliche Vereinbarungen und Kurzarbeit.“ Und weil er schon mal dabei war, warnte er auch vor den Partikularinteressen der kleineren Einzelgewerkschaften. Sie sind den Konzernen bekanntlich seit langem ein Dorn im Auge.

Die Rede beim DGB ist nur das jüngste Beispiel.Schon im Januar hatte Gauck den Eindruck erweckt, er wolle den gerade aus dem Bundestag geflogenen Banal-Liberalismus

als eine Art Ein-Mann-FDP am Leben erhalten. Am Geburtsort des Ordoliberalismus, dem Freiburger Walter Eucken Institut, überzog das Staatsoberhaupt die soziale Frage mit Hohn: „Deutsche Unternehmen verkaufen weltweit erfolgreich ihre Produkte, wir genießen – dank dieses wirtschaftlichen Erfolges – nicht nur einen materiellen Wohlstand, sondern auch einen sozialen Standard, den es so nur in wenigen Ländern der Welt gibt.“ Und wo bleibt die Dankbarkeit? „Für manche ist schon die Notwendigkeit, das eigene Leben frei zu gestalten, mehr Zumutung als Glück. So klingt das Wort Freiheit bedrohlich für jemanden, der sich nicht nach Offenheit, sondern nach Überschaubarkeit sehnt.“

Das alles sind keine Ausreißer, denn die Beispiele häufen sich. Bereits bei der Münchner Sicherheitskonferenz hatte Gauck in einer geradezu kindlichen Variante kapitalistischen Märchenglaubens verkündet: „Im außenpolitischen Vokabular reimt sich Freihandel auf Frieden und Warenaustausch auf Wohlstand.“ Es folgte ein Loblied auf militärische Expansionspolitik, verbunden mit einer Diffamierung der Kritiker: „Ich muss wohl sehen, dass es bei uns - neben aufrichtigen Pazifisten – jene gibt, die Deutschlands historische Schuld benutzen, um dahinter Weltabgewandtheit oder Bequemlichkeit zu verstecken.“

Es ist nicht so, dass Joachim Gauck die Freiheit, Missstände zu kritisieren, ganz verloren hätte. Er tut das zum Beispiel in der Flüchtlingspolitik. Aber die Gesamtbilanz kann nur lauten: Offensichtlich hat das Amt dem Mann die kritische Distanz zu den Verhältnissen in dem Staat geraubt, dem er dient. Dabei wäre diese Distanz, wären Ermahnung und Kritik aus dem Munde eines innerlich unabhängigen Präsidenten umso notwendiger in einer Zeit des großkoalitionären Schönredens, wenn eine geschrumpfte Opposition kaum Gehör findet.

Dass Joachim Gauck sich mit dem gesamtdeutschen Gesellschaftssystem identifiziert, ist für einen Bundespräsidenten normal, und bei ihm ist es aus biografischen Gründen erst recht verständlich: Sein Bekenntnis, das Ende der DDR als persönliche Befreiung empfunden zu haben, darf ja als glaubwürdig gelten. Aber diese Identifikation hat sich im höchsten Staatsamt zur weitgehenden Kritikunfähigkeit ausgewachsen. Und das hat ihn zum Lautsprecher der ohnehin herrschenden Meinungen gemacht.

Stefan Hebel ist Buchautor und politischer Publizist

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