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Stéphane Fréderic Hessel: Empört Euch!


(…) „ Man wagt uns zu sagen, der Staat könne die Kosten dieser sozialen Errungenschaften nicht mehr tragen. Aber wie kann heute das Geld dafür fehlen, da doch der Wohlstand so viel größer ist als zur Zeit der Befreiung, als Europa in Trümmern lag? Doch nur deshalb, weil die Macht des Geldes – die so sehr von der Résistance bekämpft wurde – niemals so groß, so anmaßend, so egoistisch war wie heute, mit Lobbyisten bis in die höchsten Ränge des Staates. In vielen Schaltstellen der wieder privatisierten Geldinstitute sitzen Bonibanker und Gewinnmaximierer, die sich keinen Deut ums Gemeinwohl scheren. Noch nie war der Abstand zwischen den Ärmsten und den Reichsten so groß. Noch nie war der Tanz um das goldene Kalb – Geld, Konkurrenz – so entfesselt. (…)“

Der Franzose und Europäer Stephane Hessel starb am 27.2.2013 in Paris. Die von ihm geschriebenen Bücher weisen auf ein Bekenntnis zur Sozialkritik im fairsten Sinne. Citoyen sans frontières, Conversation avec Jean-Michel Helvig, Editions Fayard, 2008, Danse avec le siècle, Editions du Seuil, 1997 u.a. wurden auch ins Deutsche übersetzt.

(…) „Derzeit bin ich am meisten über die Verhältnisse in Palästina empört, im Gaza-Streifen, im Westjordanland. Meine Empörung gründet sich auf einen Aufruf mutiger Israelis aus dem Ausland: „Ihr, die ihr vor uns geboren seid, seht, wohin unsere leitenden Männer und Frauen dieses Land geführt haben, nicht eingedenk der grundlegenden menschlichen Werte des jüdischen Glaubens.“ Ich habe mich 2002 dorthin begeben und dann noch fünfmal, zuletzt 2009. Der Gaza-Bericht von Richard Goldstone vom September 2009 sollte Pflichtlektüre sein. In ihm klagt dieser südafrikanische Richter, selbst Jude und bekennender Zionist, die israelische Armee an, während ihrer dreiwöchigen Operation „Gegossenes Blei“ Akte begangen zu haben, „die mit Kriegsverbrechen und vielleicht, unter bestimmten Umständen, mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit vergleichbar sind“.

Ich selbst habe den Gaza-Streifen erneut 2009 besucht. Unsere Diplomatenpässe haben meiner Frau und mir den Weg dorthin geöffnet. Wir wollten uns mit eigenen Augen überzeugen, ob die Aussagen des Berichts stimmten. Unsere Begleiter waren nicht zum Betreten des Gaza-Streifens, sondern nur des Westjordanlands berechtigt. Wir haben auch die 1948 von der UNWRA ( United Nations Relief and Works Agency für palästinensische Flüchtlinge im Nahen Osten) eingerichtete palästinensische Flüchtlingslager besichtigt, in denen mehr als drei Millionen aus ihrer Heimat geflohene und vertriebene Palästinenser auf eine immer fraglicher werdende Rückkehr warten.

Was den Gaza-Streifen betrifft, so ist er für anderthalb Millionen Palästinenser ein Gefängnis unter freiem Himmel. Ein Gefängnis, in dem sie sich Tag für Tag als Überlebenskünstler bewähren. Mehr noch als die materiellen Zerstörungen wie diejenige des vom Roten Halbmond errichteten Spitals durch die Operation „Gegossenes Blei“ haben sich uns die Bilder vom Lebensmut dieser Menschen eingeprägt, ihr Patriotismus, ihre Freude am Strand- und Badeleben, ihre unablässige Bemühung um das Wohlergehen ihrer zahllosen fröhlichen Kinder. Mit welchem Einfallsreichtum sie den ihnen auferlegten täglichen Mangel an so vielem zu bewältigen versuchen! Wie sie, weil ihnen der Zement fehlt, Ziegel brennen für den Wiederaufbau Tausender von den Panzern zerstörter Häuser. Tausendvierhundert Tote – Frauen, Kinder und Alte im Palästinenserlager – hat, so wurde uns bestätigt, diese israelische Armee-Operation „Gegossenes Blei“ gekostet, gegen lediglich fünfzig verwundete Israelis. Ich teile die Schlussfolgerungen des südafrikanischen Richters. Dass Juden Kriegsverbrechen begehen können, ist unerträglich. Leider kennt die Geschichte nicht viele Beispiele von Völkern, die aus ihrer Geschichte lernen.

Ich weiß: Unter der Hamas, die die letzten Wahlen gewonnen hat, wurden als Reaktionen auf die Isolierung und die Blockade der Menschen im Gaza-Streifen Raketen gegen israelische Städte abgefeuert. Selbstverständlich halte ich den Terrorismus für inakzeptabel. Aber ist es wirklich realistisch zu erwarten, dass ein mit unendlich überlegenen militärischen Mitteln besetzt gehaltenes Volk gewaltlos reagiert?

Nützt es der Hamas, Raketen auf Sderot abzufeuern? Gewiss nicht. Es ist der Sache der Hamas abträglich, aber angesichts der Verzweiflung der Menschen im Gaza-Streifen leider verständlich. In der Verzweiflung ist Gewalt ein bedauerlicher Kurzschluss zur Beendigung einer für die Betroffenen unerträglichen Situation. So gesehen ist Terrorismus eine Erscheinungsform von Verzweiflung. Hoffungslosigkeit – dieses Negativwort – beinhaltet aber die Hoffnung. Die Hoffnungslosigkeit ist die Negation der Hoffnung. So verständlich, fast naturgemäß sie ist, kann man sie dennoch nicht akzeptieren, denn aus ihr kommt nichts, was eventuell wieder Hoffnung sprießen ließe… (…)“

Stéphane Hessels Streitschrift bewegt die Welt. Mit eindringlichen Worten ruft er zum friedlichen Widerstand gegen die Ungerechtigkeit in unserer Gesellschaft auf. Gegen die Diktatur des Finanzkapitalismus, gegen die Unterdrückung von Minderheiten, gegen die Umweltzerstörung auf unserem Planeten:

Neues schaffen heißt Widerstand leisten. Widerstand leisten heißt Neues schaffen.“

Erschienen bei Ullstein. Aus dem Französischen von Michael Kogon, 3,99€, die sich wirklich lohnen. Ds

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