Spukender Zombie
Von Elmar Altvater
Vor fünf Jahren, am 15. September 2008, kollabierte mit Lehman Brothers eine der größten Banken der Wall Street. Bis das Geldhaus der Schlag ereilte, war es quicklebendig am „Börsenspiel der Bankokraten“ (Marx) beteiligt und erfand jene „strukturierten“ Papiere auf der Basis von „Subprime-Immobilienkrediten“, die trotz ihres großartigen Namens nur den Wert von Schrott hatten. Viele Banken diesseits und jenseits des Atlantiks wurden in den Abgrund gerissen. Seit September 2008 ist Lehman Brothers eine „untote Bank“. ZU keinen normalen Finanzgeschäften mehr geeignet, durch halsbrecherische Spekulation geschwächt und bestürmt von sich betrogen fühlenden Gläubigern, steht das Institut unter der Kuratel der Bankaufsicht und wird von einem Insolvenzverwalter geführt. Lehman Brothers wurde 1850 in Montgomery (Alabama) gegründet. Das Ende hingegen ist nicht auf einen Tag zu datieren, es zieht sich hin.
Das finanzielle Erdbeben von 2008 hat die globalen Finanzmärkte auf den Kopf gestellt und schickt noch 2013 Nachbeben und einen Tsunami von Pleitewellen durch die Weltwirtschaft. Zuerst waren seinerzeit die Zocker mit den unterwertigen Immobiliendarlehen in den USA dran. Dann auch die Kunden in aller Welt, denn die Händler mit den Subprime-Papieren im Bauchladen hatten diese an spanische Sparkassen, belgische Investmentbanken oder deutsche Landes- und Industriebanken verhökert. Dort saß man nun auf unveräußerlichen Schrottpapieren und rief den Staat um Hilfe an, damit er die Wut über das verlorene Geld mit Steuermitteln kühlen möge. Der Ruf wurde erhört. Denn viele der torkelnden Finanzinstitute galten als „systemrelevant“. Wer hatte sie so eingestuft? Sie selbst? Ihre Anwaltskanzleien? Die Rating-Agenturen?
Der damalige deutsche Finanzminister Peer Steinbrück klagte im September vor fünf Jahren, er hätte „in einen Abgrund geblickt“. Der gleichen Auffassung war auch der gerade vom Posten des US-Notenbankchefs zu einem exklusiven Beraterjob der Investmentbank Goldman Sachs gewechselte Alan Greenspan; jedenfalls benutzte er die gleichen Worte wie Steinbrück. Um diesen Abgrund aufzufüllen reichten die Rettungsmilliarden der öffentlichen Hand freilich nicht. Die Bush-Regierung ließ daher Lehman am 15. September 2008 gnadenlos verhungern, obwohl sie anderen Finanzinstituten generös erlaubte, sich an den staatlichen Tropf zu hängen. Die Erklärung für dieses Verhalten ist einfach. Finanzminister war in jenem entscheidenden Jahr Henry Paulson, der 2006 direkt aus der Chefetage des Lehman-Rivalen Goldman Sachs an die Spitze des US-Finanzressorts berufen worden war Er nutzte die ihm zugefallene neue Macht, um mit 700 Milliarden US-Dollar viele von der leite bedrohte Finanzinstitute zu retten. Von dieser Liebesgabe war allerdings die Lehman –Konkurrenz ausgeschlossen.
Der weiße Ritter, das war in den Jahren der Subprime-Krise und ihrer Nachwehen der Staat in der traurigen Gestalt der Bush-Regierung, die Lehman Brothers den Stinkefinger zeigte, als das Bankhaus an der Kante zum Abgrund stand. Noch eine Woche vor Lehmans Ende hatte die neoliberale US-Administration die beiden großen Immobilienfinanzierer Fannie Mae und Freddy Mac ganz gegen ihre Ideologie verstaatlicht. Das kostete viele Milliarden. Obendrein musste der Staat den weltgrößten Versicherungskonzern AIG aus dem selbstverschuldeten Schlamassel heraushauen und sich dafür bis über beide Ohren verschulden.
Das Unternehmen hatte sich mit Kreditausfallbürgschaften (Credit Default Swaps/CDS) verspekuliert und benötigte 180 Milliarden Dollar. Aber weder die Anteilseigner noch die Freunde der Banking Community waren bereit, das Geld aufzubringen. Beide „verbunkerten“ sich, um kein Kapital hergeben zu müssen, wie es der Chef der Finanzfirma Patterson Capital in der Zeitschrift Business Week formulierte. Also ließ Präsident Bush die öffentlichen Kassen mit dem Geld der Steuerzahler einspringen. Für die Rechtfertigung hatten Finanzindustrie und Medien bereits gesorgt: Die gefährdeten Banken seien „systemisch relevant“ und müssten unbedingt über Wasser gehalten werden.
„Systemrelevant“ waren offenbar die Spekulationen, nicht die Produktion und Realwirtschaft – die Finanzvermögen, nicht aber die Menschen. Arbeitsplätze verschwanden damals tausendfach, zum Beispiel bei General Motors, als der Konzern zwar gleichfalls 2008 mit vielen Milliarden Staatshilfe vor dem Bankrott bewahrt wurde, aber dennoch 47.000 Arbeiter ihren Job verloren. Ihre Häuser kamen unter den Hammer. Seitdem verwildern im einstmals stolzen Detroit ganze Stadtviertel. Und Rettung gegen den regelmäßig wiederkehrenden Hunger versprechen nur noch kirchliche Almosen.
Doch die Verstaatlichung privater Schulden löste die Krise nicht, auch wenn später so manche Milliarde beim Verkauf der Schrottpapiere wieder hereingeholt werden konnte, weil der Markt sich etwas erholte und die zu niedrigen Kursen erworbenen Papiere teurer verkauft werden konnten. Die Krise der Immobilienwerte und die Krise der Banken als Folge plötzlicher Entwertung ihrer Sicherheiten wurde 2008 zur Staatsschuldenkrise und unvermeidlich auch zur Währungskrise, als die Staaten – nicht zuletzt die Eurozone – begannen, sich massiv für die maroden Geldhäuser zu engagieren. Mit der Konsequenz haben besonders die südeuropäischen Staaten bis heute zu kämpfen.
Das muss Lehman Brothers nicht mehr kümmern, wird doch das Institut seit fünf Jahren abgewickelt – ein spukender Zombie. Geld hat wie eine Katze sieben Leben. Nach dem 15. September 2008 war es weg, und die In Insolvenzverwalter, die nun die Geschäfte bei Lehman führen, rechneten damals damit, dass die Anleger 80 bis 90 Prozent ihrer Werte einbüßen würden. Das war ein bisschen zu pessimistisch kalkuliert. Die Deutschlandtochter von Lehman hat – wie Insolvenzverwalter Michael Frege zufrieden mitteilte – bisher 31,5 Prozent der anerkannten Forderungen an die Gläubiger auszahlen können.
Zum Vergleich: Jene Finanzkrise, die als Schuldenkrise der Dritten Welt in den achtziger Jahren ausbrach, nachdem die Finanzmärkte mehr und mehr liberalisiert worden waren, erreicht gerade ihr 30. Jahr. Sie hatte unter Präsident Ronald Reagan US-Sparkassen ins Jenseits der Insolvenz geschickt, Mexiko zu Weihnachten 1994 Verluste von 20 Prozent des Sozialprodukts beschert, einig asiatische Tigerländer in die Verarmung und Argentinien zur Revolte gegen den Zugriff gnadenloser Gläubiger getrieben.
Eine ähnliche Krise hat jetzt die Euroländer im Griff. Sie werden durch die Troika aus EZB, EU-Kommission und IWF mit tatkräftiger Unterstützung Deutschlands gezwungen, den Schuldendienst aus der Bevölkerung herauszupressen, damit die Forderungen eines völlig überdimensionierten Finanzsektors bedient und die Finanzvermögen erhalten werden können. Das wird immer schwieriger, denn Aktienpakete werden im Schnitt nicht mehr sieben Jahre gehalten wie früher, sondern im heutigen Turbo-Kapitalismus nur noch 22 Sekunden. Infolge dieser phantastischen Geschwindigkeit fallen heute die Konjunkturzyklen kürzer aus, dafür dauern die Krisen länger. Die Gesellschaften werden zerstört, um das Geld zu retten.
Von
2008 bis heute stellen die EU-Staaten den Banken etwas mehr als 3,2
Billionen Euro zur Verfügung, entweder als Garantien oder um den
Bedarf an mehr Eigenkapital zu decken. Da es sich bei diesen
Finanzhilfen um öffentliche Mittel handelte, wäre es an der Zeit,
dass eine europäische Bankenaufsicht nicht nur in Aussicht steht,
sondern endlich stattfindet. Dann wäre auch die Abwicklung maroder
Institute kein Sakrileg mehr.