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Rafael Correa im Gespräch mit Harald Neuber

Sie haben jüngst erklärt, Lateinamerika habe zur Genüge durchlitten, was Europa gerade mit der Eurokrise durchmache. Was kann die EU von Ihnen lernen?

Rafael Correa: Anfang der achtziger Jahre hatten wir auch in Lateinamerika eine Schuldenkrise, weil uns das internationale Finanzkapital Kredite geradezu aufgezwungen hatte. Dieses überflüssige Geld der Finanzmärkte ging auch an Diktaturen, die weder sozial noch demokratisch legitimiert waren. In der Konsequenz waren viele Staaten bald schwer überschuldet. Prompt kam der der IWF mit seinen Hilfspaketen . Nur ließ sich damit die Krise überwinden? Nein, es ging allein darum, die Rückzahlung der Schulden an die Gläubiger zu garantieren. Deswegen schwelte diese Krise über zehn Jahre lang, ohne eingedämmt zu werden. Heute ist vom verlorenen Jahrzehnt für Lateinamerika die Rede. Ecuador stand 1990 mit dem gleichen Pro-Kopf-Einkommen da, wie man es schon 1976 verzeichnet hatte. Und all dies, weil die Interessen der Banken bedient und nicht die Interessen der Menschen beachtet wurden. Genau das Gleiche wiederholt sich nun in Europa.

Was raten Sie Europa?

Sich mehr Gedanken um die politische Ökonomie zu machen. Es geht darum, wer in der Gesellschaft das Sagen hat. Machen wir uns nichts vor. Auch in Ecuador hat in der Vergangenheit das Finanzkapital die Politik bestimmt.

Es machen sich Widerstände gegen linke Regierungen in Lateinamerika bemerkbar. In Paraquay wurde ein progressiver Präsident entmachtet. ES gab einen Putschversuch gegen die Regierung in Ecuador. Nach der Wahl eines neuen Staatschefs im April steht Venezuela unter Spannung. Warum misslingt es den linken Regierungen, mehr gesellschaftlichen Konsens herzustellen?

Wie können wir den erreichen, wenn wir gerade Jahrhunderte währende Strukturen zerschlagen? Sie haben einige Versuche der Destabilisierung erwähnt. Sie richteten sich ausnahmslos gegen progressive, in keinem Fall gegen rechte Regierungen. Offenbar gelten wir als Gefahr. Die Demokratie ist so lange gut, wie sich nichts verändert. Gibt es aber mit den neuen Demokraten und progressiven Regierungen sozialen Wandel, ruft das mächtige Feinde auf den Plan. Es ist ja nicht so, dass Lateinamerika ein Paradies war, bevor wir antraten. Es herrschten Ungerechtigkeit und Ungleichheit.

Wenn ich in den USA auf Konferenzen zu Gast bin, bitte ich die Zuhörer oft, sich an den Kampf um die Bürgerrechte in den sechziger Jahren zu erinnern, um die aktuelle Lage bei uns zu verstehen. Oder ich sage, denken Sie an den Kampf gegen sie Sklaverei, durch den die USA in einen Bürgerkrieg gerieten und fast zerbrochen wären. ES geht um den politischen Kontext, in dem etwas geschieht.

Welcher Kontext erklärt den gerade in Venezuela aufgebrochenen Konflikt?

Der Tod von Hugo Chávez hat die Opposition natürlich motiviert, die Lage zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Ihr unterlegener Bewerber Henrique Capriles hat allerdings bei den Gouverneurswahlen 2008 selbst nur mit einigen zehntausend Stimmen Vorsprung gesiegt. Wenn er jetzt das Ergebnis vom 14. April anfechtet, hätte er seinerzeit das Amt des Gouverneurs von Miranda nicht übernehmen dürfen. Nicolás Maduro hast sich mit einem Vorsprung von über 200.000 Stimmen oder mehr als einem Prozent durchgesetzt.

Sollte nachgezählt werden?

Wir haben dazu als Regierung Ecuadors eine klare Position: Nach diesem Votum soll nachgeprüft werden, was nachgeprüft werden muss. Das ist die Entscheidung der Venezolaner und ihrer staatlichen Institutionen. Für uns aber bleibt Maduro der Gewinner. Wir treten jeder Destabilisierung entgegen, wie es sie ja unter Hugo Chávez auch gegeben hat, obwohl bei ihm der prozentuale Abstand zur Opposition stets größer war.

Weshalb stehen die linken Regierungen Lateinamerikas in einem steten Konflikt mit den Medien?

Wer, denken Sie gehört zu den Gegnern der Prozesse, über die wir eben gesprochen haben? Wer sucht das Chaos und putscht? Wer war zur Zeit der Volksfrontregierung von Salvador Allende in Chile zwischen 1970 und 1973 der größte Verschwörer? Die Tageszeitung El Mercurio ! Davon wird heute nicht mehr gesprochen, weil es gleich heißt, das sei ein Angriff auf die Meinungsfreiheit.

Was halten Sie dem entgegen?

Die Unterscheidung zwischen Meinungsfreiheit und korrupten Geschäften von Pressekonzernen, die in der Vergangenheit nichts als politische Instrumente waren, um den Status quo zu bewahren.

Wie können wir die bürgerliche Presse nicht kritisieren, wenn sie zu den Kräften gehört, die unser Land dominiert und ausgebeutet haben? Das ist doch nicht nur ein Problem unserer Staaten. Stellen Sie sich: Was wir wissen und was wir nicht wissen und was wir über Menschen denken, denen wir nie begegnet sind, das hängt von Medienkonzernen ab, die sich dem Geschäft mit der Information widmen. In Europa und Nordamerika ist das nicht so offensichtlich, weil es dort professionelle Medien gibt, ethisches Verhalten und eine Demokratisierung der Medien.

Das fehlt in Lateinamerika, wo die Medien traditionell Eigentum der Oligarchie sind – wo mit Banken Oligopole gebildet werden und dann ein Fernsehkanal gegründet wird. Doch geschieht dies nicht, um zu informieren, sondern um Banken und wirtschaftliche Oligopole zu verteidigen. Es gibt keine Ethik – Lügen sind normal, weil man das Lügen gewohnt ist. Und Medien, die lügen, zeitigen schreckliche Auswirkungen auf Demokratie und Menschenrechte. Und das beklagen wir nicht nur, das bekämpfen wir auch.

Sehen Sie darin einen Grund für das fehlende Verständnis, das die Linke Lateinamerikas in Europa zuweilen findet?

Sicher, denn zwischen uns steht keine Information, sondern Propaganda. Und das sagen nicht nur wir. Sehen Sie, der Schriftsteller Marqués de Vargas Llosa, ein erklärter Rechter, hat seine Tätigkeit für das Blatt El Comercio in Peru während des letzten Wahlkampfes zwischen Ollanta Humala und Keiko Fujimori aus Protest beendet, weil die Redaktion die Wahrheit verdrehte und anders denkende Journalisten feuerte.

Kritik an solchen Medien als Angriff auf die Pressefreiheit zu bezeichnen, ist so absurd, als würde man Kritik an einem Präsidenten als Angriff auf die Demokratie missverstehen. Meinungsfreiheit ist ein Recht aller. Nicht nur derjenigen, die das Geld haben, sich Druckmaschinen zu kaufen.

Spielen divergierende Auffassungen über Menschenrechte und Meinungsfreiheit in Europa und Lateinamerika auch beim Fall Julian Assange eine Rolle?

Bevor wir darauf zu sprechen kommen, möchte ich noch etwas ergänzen. Sehen Sie, wenn man und nicht kritisieren kann, weil die Dinge einfach zu offensichtlich, weil Armut und Ungleichheit zurückgegangen sind – weil wir die Wahlen gewonnen haben und des eine wirkliche Demokratie gibt, dann kommt man mit so unangreifbaren Standards wie Freiheit.

Thomas Jefferson – Autor der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und damit eines der wunderbarsten Dokumente der Menschheit, in deren zweiten Absatz es heißt, jeder Mensch habe das Recht auf Glück und Freiheit – besaß rund 200 schwarze Sklaven. Er war mit seinem Freiheitsideal kein Betrüger, sondern wurde in eine Zeit hineingeboren, in der man der Auffassung war, dass Menschenrechte für Weiße und nicht für Sklaven galten. Wenn unsere Gegner heute von Menschenrechten sprechen, dann meinen sie ihre Freiheit, ihre Rechte. Wenn wir die Rechte aller und die der Freiheit für alle verteidigen, dann sind wir auf einmal diejenigen, die Menschenrechte angreifen. Dieser Vorwurf ist zu einem Instrument der Desinformation über progressive Regierungen geworden.

In Ecuador wurde bisher niemand wegen seiner Meinung verhaftet, sondern es wurde ein Verfahren gegen einen Journalisten wegen der Verletzung von Persönlichkeitsrechten eröffnet. Dennoch wird so getan, als herrsche in Europa Zivilisation und in Ecuador Barbarei. Darin besteht die Doppelmoral des Eurozentrismus.

Was wird mit Julian Assange?

Seltsam, nicht? Ein Verteidiger der Informationsfreiheit wählt ein Land als Zufluchtsort, das angeblich die freie Meinung einschränkt. Assange wird weiter unter dem Schutz des ecuadorianischen Staates bleiben, den wir ihm in Ausübung unseres souveränen Rechts gewähren. Die Lösung des Falls liegt in den Händen Europas.


Rafael Vincente Correa (50) regiert Ecuador seit 2007. Der promovierte Wirtschaftswissenschaftler – er hat u.a. in Frankreich und den USA studiert – folgt einem linkspatriotischen Kurs, setzt auf Partizipation bisher marginalisierter Volksschichten und versucht den Einfluss der traditionellen Wirtschaftseliten zu begrenzen. Correa nennt seine Executive „bolivarianisch“ und sieht sich selbst als Anwalt einer südamerikanischen Nation. Wie der verstorbene venezolanische Staatschef Hugo Chávez bekennt er sich zum „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“. Während eines Putschversuchs meuternder Polizisten im September 2010 wurde Correa bei einer missglückten Vermittlung verletzt, aber anschließend durch loyale Armeeeinheiten geschützt. Nachdem er bei der Präsidentenwahl Mitte Februar 2013 mit gut 57 Prozent der abgegebenen Stimmen gesiegt hatte, trat Rafael Correa seine mittlerweile dritte Amtszeit an. LH

Ersterscheinung in der Freitag Nr 19, 8. Mai 2013

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