Arbeiten
bis der Hartz kommt
Von Christoph Butterwegge
Kürzlich erregte ein Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundeswirtschaftsministerium großes Aufsehen, in dem neoliberale Ökonomen zu belegen suchten, dass Altersarmut in Deutschland „kein drängendes Problem“ sei. In den Tageszeitungen fanden sich daraufhin Schlagzeilen wie „Die Legende von den armen Alten“ sowie der Ratschlag, die Regierung solle sich lieber um junge Menschen und MIgranten kümmern, die besser gefördert werden müssten, um das Entstehen von Altersarmut zu verhindern. So wurden auf infame Weise mehrere von hohen Armutsrisiken betroffene Gruppen gegeneinander ausgespielt.
„Die Einkommens- und Vermögenssituation der Älteren von heute ist überdurchschnittlich gut“, heißt es im Entwurf des 4. Armuts- und Reichtumsberichts. Diesen will das Bundeskabinett nun endlich Ende Januar beraten, nachdem Wirtschaftsminister Philipp Rösler (FDP) – nicht zufällig derselbe Minister, dessen Beratergremium jetzt die Altersarmut beschönigt – Einspruch gegen einige Passagen der Ursprungsfassung erhoben und Teile der Ergebnisse dann entschärfte oder ganz strich. Die Beschlussfassung über den Bericht wurde außerdem immer wieder hinausgezögert, obwohl dieser laut Parlamentsbeschluss eigentlich zur Mitte der Legislaturperiode vorliegen soll. Systematisch wird die gesellschaftliche Realität beschönigt, die soziale Ungleichheit geleugnet und die Öffentlichkeit getäuscht.
Die Fakten zeigen ein ganz anderes Bild: Seit die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung 2003 eingeführt wurde, hat sich die Zahl der älteren Menschen, die auf sie angewiesen sind, um rund zwei Drittel erhöht. 2011 waren es bereits über 436.000 Ältere, die einschließlich Miete und Heizung im Durchschnitt weniger als 700 Euro pro Monat erhielten. Es ist jedoch ein offenes Geheimnis, dass sich besonders ältere Menschen damit schwertun, diese Transferleistung – früher hieß sie Fürsorge beziehungsweise Sozialhilfe – zu beantragen, weil sie zu stolz sind, sich schämen, den bürokratischen Aufwand scheuen oder weil sie irrtümlich den Unterhaltsrückgriff auf ihre Kinder oder Enkel fürchten. Man muss deshalb von einer relativ hohen Dunkelziffer ausgehen, so dass die Zahl derjenigen, die im Alter auf Hartz-IV-Niveau leben, inzwischen deutlich über einer Million liegen dürfte.
Dazu kommt: Die Einkünfte von mehr als zwei Millionen Seniorinnen und Senioren fallen unter die „Armutsrisikoschwelle“ der Europäischen Union (952 Euro). Und so ist es kein Wunder, dass es über 760.000 Ruheständler gibt, die einen Minijob haben, darunter fast 120.000 Personen, die 75 Jahre und älter sind. An den Lebensmitteltafeln häufen sich ältere Menschen, die wegen ihrer Minirenten spätestens am 20. Des Monats nichts Warmes mehr auf den Tisch bringen. In vielen Orten gehören Seniorinnen und Senioren, die frühmorgens Zeitungen austragen oder in Müllcontainern nach Pfandflaschen suchen, längst zum „normalen“ Stadtbild.
CDU, CSU und FDP hatten sich im Koalitionsvertrag darauf geeinigt, die ihrer Meinung nach erst künftig drohende Altersarmut zu bekämpfen. Vorschläge dafür sollte eine Regierungskommission erarbeiten. An deren Stelle setzte die Arbeits- und Sozialministerin Ursula von der Leyen (CDU) einen „Regierungsdialog Rente“, der einseitig verlief, weil seine Ergebnisse im Kern von Anfang an feststanden: die „Zuschussrente“ (Anhebung der Rente bestimmter Gruppen von Geringverdienern), Minimalkorrekturen bei der Erwerbsminderungsrente und die „Kombirente“ (vorzeitiger Rentenbezug in Verbindung mit einem Teilzeitjob). Vervollständigt wurde das „Rentenpaket“ der Ministerin durch eine Versicherungspflicht für Selbständige, die Möglichkeit für Arbeitgeber, freiwillig zusätzliche Beiträge für die Beschäftigten in die Rentenkasse einzuzahlen, eine Geldspritze für Rehabilitationsmaßnahmen und die Absicht, Riester-Produkte transparenter und damit besser verkaufbar zu machen.
Auf der Sitzung des Koalitionsausschusses am 4. November 2012 wurde die „Lebensleistungsrente“ aus der Taufe gehoben, ohne dass ihre Rahmenbedingungen geklärt und ein Finanzierungskonzept beschlossen worden wäre. Kein Wunder also, dass Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) bereits mit einem Veto drohte.
Das Beste an dem Plan ist noch der Name. Mit einer Stärkung der Alterssicherung oder mit Armutsbekämpfung hat die flickwerkartige Rentenpolitik von CDU,CSU und FDP aber nichts zu tun. Denn je größer das Risiko ist, im Alter arm zu werden, umso weniger greifen die schwarz-gelben Instrumente. Selbst wer die hohen Zugangshürden überwindet, also den Rentenzuschuss bekommt, sieht einem entbehrungsreichen Ruhestand entgegen. Wer hingegen mangels Riester-Vorsorge keinen Anspruch auf die Lebensleistungsrente hat, kann selbst für die soziale Misere, in der er steckt, verantwortlich gemacht werden. Das ist schlimm: Denn ein Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Altersicherungssystem, welches Armut nach langjähriger Vollerwerbstätigkeit zulässt, verliert nicht bloß an Rückhalt in der Bevölkerung, sondern auch seine Existenzberechtigung.
In Deutschland hat Altersarmut im Wesentlichen zwei Wurzeln: die Demontage des Sozialstaates im Allgemeinen und der gesetzlichen Rentenversicherung im Besonderen sowie die Deregulierung Deregulierung des Arbeitsmarktes. Denn wegen der Teil-Privatisierung der Alterssicherung und der um sich greifenden Ausweitung des Niedriglohnsektors, der Mini-Jobs und der Zunahme von Leiharbeit verschiebt sich die Armut künftig noch stärker in Richtung der Senioren. Die schrittweise Anhebung des Rentenalters auf 67 Jahre und die dadurch zu erwartenden höheren Abschläge, falls jemand früher aus dem Arbeitsleben ausscheidet, verstärken diesen Trend noch.
Um die bestehende Altersarmut zu verringern ist ein ganzes Bündel an Maßnahmen nötig: Da heutige Erwerbslosigkeit längerfristig zu Altersarmut führt, wäre die Einführung eines flächendeckenden Mindestlohns von zehn Euro pro Stunde unbedingt notwendig. Genannt seien weiterhin die Streichung aller Kürzungsfaktoren aus der Rentenanpassungsformel, die Beibehaltung der Altersgrenze von 65 Jahren und die Erhöhung der Grundsicherung im Alter auf mindestens 900 Euro.
Auch müsste die Bundesagentur für Arbeit für Hatz-IV-Bezieher wieder Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung abführen. Durch die Einbeziehung von Selbständigen, Freiberuflern, Beamten, Abgeordneten und Ministern sowie die Einführung der Beitragspflicht für Kapitaleinkünfte, Mieteinnahmen und Pachterlöse könnten die Rente zu einer solidarischen Bürgerversicherung erweitert und auf ein solides finanzielles Fundament gestellt werden.
Christoph Butterwegge lehrt Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Kürzlich ist das von ihm herausgegebene Buch Armut im Alter. Probleme und Perspektiven der sozialen Sicherung (Campus Verlag) erschienen.