Am
Abgrund
Von Sami Ramadani
Es ist mir noch nie leicht gefallen, über den Irak und Bagdad zu schreiben – das Land meiner Geburt und die Stadt meiner Kindheit. Man sagt, die Zeit heile alle Wunden. Doch wie bei den meisten Irakern vermischt sich bei mir die Trauer über all das, was geschehen ist, mit der Angst, dass es noch schlimmer kommt. Zehn Jahre nach dem Krieg, mit dem George Bush und Tony Blair 2003 das Land überzogen, und ein gutes Jahr nach dem Ende der Besatzung blickt mein geschundenes Land, das einst die Wiege der Zivilisation war, in den Abgrund und fürchtet den totalen Bürgerkrieg.
Als Exilant bin ich mir über die Verbrechen Saddam Husseins vollauf im Klaren. Doch die Iraker wissen auch, dass der einstige Herrscher sie fast ausnahmslos als Verbündeter des Westens beging. Als es dann nicht mehr in ihrem Interesse lang, in zu stürzen, ertränkten sie das Land in Blut. Der Krieg 2003 ist für die Iraker noch nicht Geschichte. Wir haben längst nicht alle Toten gezählt, geschweige denn die Verletzten, Vertriebenen und Traumatisierten. Tausende werden noch immer vermisst. Die Amerikaner weigern sich bis heute, die Langzeitfolgen der verwendeten Uran-Munition einzugestehen und streiten ab, bei der Schlacht um Falludscha im April 2004 Chemiewaffen eingesetzt zu haben.
Weiterhin müssen in einem der reichsten Länder der Welt Millionen verarmter Menschen ohne Strom, sauberes Wasser und elementare soziale Dienste auskommen. Frauen und Kinder zahlen den höchsten Preis. Und was ist mit der Demokratie, um die es doch angeblich ging? Die US-Besatzungsbehörden förderten einen „politischen Prozess, der wie dafür geschaffen war, Gräben zwischen den religiösen und ethnischen Gruppen zu vertiefen. Da es ihnen nie gelang, den Widerstand gegen die Okkupation zu brechen, griffen die USA auf das Prinzip des Teile-und Herrsche zurück, um das Land unter ihrer Kontrolle zu halten. Folter, Todesschwadronen und Milliarden von Dollars haben das soziale Gefüge zerbrochen und eine korrupte Führungsschicht erzeugt, die durch ihren Anteil an den Gewinnen aus den Ölexporten Tag für Tag reicher wird. Schlecht funktionierende staatliche Einrichtungen werden von sich gegenseitig bekämpfenden religiösen Fraktionen dominiert, die entweder mit den USA verbündet sind oder deren Einfluss fürchten, während die US-Botschaft noch immer den Ton angibt. Das heißt, Irak bleibt ein um seine Souveränität gebrachter Staat. Wir haben eine schiitisch kontrollierte Regierung, doch die meisten Schiiten sind bitterarm. Und wir haben eine sunnitische Minderheit, die Privilegien zurückerobern will, die sie unter Saddam besaßen.
Die wachsenden Spannungen im Inneren werden durch die Gefahr verschärft, dass uns der syrische Bürgerkrieg erfasst. Im Westen des Irak rekrutierte einst US-General David Patraeus seine Erweckungs-Milizen, um sunnitischen Widerstand in der Region zu brechen. Das verschaffte auch Al-Quaida-Terroristen Auftrieb, den natürlichen Verbündeten der heutigen Al-Nusra-Front in Syrien. Die De-facto-Allianz zwischen den USA, der Türkei, Israel und Assad-Gegnern in Syrien gibt es auch im Irak, nur das hier noch übrig gebliebene Saddam-Anhänger mitmischen. Der Pragmatismus der USA kennt keine Grenzen!
Sami
Ramadani lehrt heute Soziologie an der London Metropolitan
University