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1933 Alles Lüge

Von Wolfgang Wippermann


Bonn ist nicht Weimar! Die westdeutsche ist eine „wehrhafte Demokratie.“ Sie verteidigt sich gegen die Angriffe der antidemokratischen Extremisten von links und rechts. Notfalls auch mit antidemokratischen Methoden, durch Parteiverbote und Radikalenerlasse – diese politischen Grundmaximen der Bundesrepublik basieren auf der historischen Annahme, dass die Weimarer Republik von linken und rechten Extremisten zerstört worden sei. Extremistische Antidemokraten hätten Hitler ermächtigt.

Alles Lüge!

Die schrittweise Zerstörung der Weimarer Demokratie erfolgte mit der Zustimmung und durch aktive Beihilfe auch der demokratischen Parteien. Dieser Prozess begann bereits 1928, als die nach wie vor mächtigen Ruhrindustriellen die 1918 vereinbarte Sozialpartnerschaft aufkündigte, indem sie mehr als 200.000 Arbeiter beim Ruhreisen-Streik widerrechtlich aussperrten. Es sollte ein Exempel statuiert werden. Das rheinisch-westfälische Unternehmerlager wollte geforderte Tariferhöhungen von 15 Pfennigen pro Arbeitsstunde nicht zustimmen, weil es befürchtete, dadurch würden die Gewerkschaften im Verbund mit der Reichsregierung unter SPD-Kanzler Hermann Müller zu stark. Die Repressionen wurden von allen demokratischen Parteien klaglos hingenommen. Seitdem war die Weimarer keine soziale Demokratie mehr. Seit 1930 war sie auch keine parlamentarische Demokratie mehr. Regiert wurde nicht mit dem Parlament, sondern gegen dasselbe mithilfe des Verfassungsartikels 48, der den Reichspräsidenten Hindenburg zu einer autoritären Regierung durch Erlass von Notverordnungen ermächtigte. Davon profitierten vorgeblich demokratische Politiker wie der 1930 ins Amt gekommene Kanzler Heinrich Brüning von der Zentrumspartei. Hindenburgs Vorgehen tolerierte auch die SPD.

Am 30. Januar 1933 fanden sich dann die Konservativen bereit, eine Allianz mit der NSDAP einzugehen. Offen erklärtes Ziel der Koalitionsregierung aus Deutsch-Nationaler Volkspartei (DNVP) und NSDAP war die völlige Zerstörung der Demokratie. Dennoch gab es von Seiten der demokratischen Parteien keinen Protest. Zum Widerstand aufgerufen hat allein die KPD. Doch die galt als antidemokratisch und wurde schon am 28. Februar 1933 unter Berufung auf die Reichstagsbrandverordnung verboten. Am 23 März 1933 erfolgte dann die endgültige Ermächtigung Hitlers. Dies geschah durch das „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“. Es erlaubte der damaligen Regierung, Gesetze (auch verfassungsändernde) ohne Zustimmung des Parlaments zu erlassen. Damit hatte sich der Reichstag selbst entmachtet. Ein einmaliger Vorgang, wie es ihn in der Parlamentsgeschichte noch nie gegeben hatte.

Doch damit war es nicht getan. Die Entmachtung der Legislative war keinesfalls nur das Werk von Antidemokraten, sondern auch der Demokraten. Neben den Abgeordneten der NSDAP und der Deutsch-Nationalen Volksunion stimmten am 23. März auch das katholische Zentrum und liberale Parteien dem Ermächtigungsgesetz zu. Anschließend durften sie sich bis Mitte 1933 selbst auflösen und von der Bildfläche verschwinden . Sie hatten Hitler ermächtigt und sich selbst entmachtet.

Beides war und ist durch nichts und niemanden zu legitimieren. Doch das war auch nicht nötig. CDU und FDP, die nach 1945 die Nachfolge des Zentrums, der liberalen Parteien (und der Konservativen!) antraten, mussten sich für das Fehlverhalten ihrer Vorgänger nicht rechtfertigen. Sie konnten einfach verschweigen, wie im März 1933 die Weimarer Demokratie auch durch den Beitrag ihrer Vorgängerpartei entsorgt wurde. Sie sind an diesem Verdrängen der Geschichte auch von der Nachkriegs-SPD nicht gehindert worden. Was erstaunt, schließlich war es die SPD-Fraktion, die dem Ermächtigungsgesetz nicht zugestimmt hatte. Mutig, aber nicht mutig genug. Mit diesem Nein war nämlich kein entschiedenes Ja zur Demokratie verbunden, denn von Widerstand war keine Rede. Den überließ man zunächst den Kommunisten. Sozialdemokratische Abgeordnete des nach der Wahl vom 5. März 1933 gebildeten Reichstags haben noch nicht einmal das Schicksal der bereits verfolgten und aus dem Parlament verbannten kommunistischen Kollegen beklagt. Fehlte der Mut?

Später wurde dieses fatale Schweigen vom Parteivorsitzenden Otto Wels offen eingestanden, aber zugleich mit dem Hinweis entschuldigt, man sei schließlich völlig „wehrlos“ gewesen. Tatsächlich? War die SPD wirklich „wehrlos“? Wenn ja, dann doch wohl durch eigene Schuld. Die Partei verfügte mit dem zwei Millionen Mitglieder zählenden Reichsbanner über eine Wehrorganisation, die durchaus fähig gewesen wäre, sich der Zerstörung der Weimarer Republik durch die NSDAP entgegenzustellen. Sie hätte freilich die dazu nötigen Waffen von der bis Mitte 1932 sozialdemokratisch geführten preußischen Polizei erhalten müssen.

Wäre und hätte! Dieses schöne sozialdemokratische Abwehrkonzept ist nämlich nicht realisiert worden. Schuld daran waren keineswegs die Konservativen und die notorisch antidemokratischen Nationalsozialisten, sondern Ex- und Pseudodemokraten wie der Reichskanzler Franz von Papen, der unter Berufung auf Diktaturartikel 48 der Weimarer Reichsverfassung die sozialdemokratischen Befehlshaber der preußischen Polizei einfach absetzte und durch Kommissare ersetzte. Die Rede ist vom „Preußenschlag“ am 20. Juli 1932 gegen die rechtmäßige preußische Landesregierung. Dabei wurden außer Ministerpräsident Otto Braun und Innenminister Carl Severing (beide SPD) alle sozialdemokratischen Polizeipräsidenten in Preußen ihrer Ämter enthoben. Ein glatter Verfassungsbruch. Dennoch reichte die SPD nur eine absehbar erfolglose Klage beim Reichsgericht ein und verzichtete auf eine Mobilisierung des Reichsbanners, weil dies zu einem Bürgerkrieg führen könne, der nicht zu gewinnen sei, argumentierte die Parteiführung.

Wiederum hätte und wäre! Denn sich war das alles keineswegs. Was zählt, sind Fakten: Die SPD hat sich selber „wehrlos“ gemacht. Dies schon am 20. Juli 1932, nicht erst am 30. Januar 1933, als das immer noch bestehende Reichsbanner wiederum nicht zum Widerstand aufgerufen wurde. Das Sündenregister der SPD ist damit keineswegs erschöpft. Keine zwei Monate nach ihrem Nein zum Ermächtigungsgesetz Hitlers sagten die noch im Reichstag verbliebenen Sozialdemokraten am 17. Mai 1933 dann immerhin Ja zu Hitlers heuchlerischer Friedensrede, als er sein außenpolitisches Programm verkündete.

Diese würdelose Anbiederung ihrer Genossen im Reichstag war emigrierten Sozialdemokraten zu viel. Sie gründeten im Prager Exil eine neue sozialdemokratische Partei, die SOPADE. Die von der SPD abgespaltene SOPADE war es, die schließlich am 18. Juni 1933 dazu aufrief, die „Ketten zu zerbrechen“ und endlich Widerstand zu leisten. Zu Recht, denn die SPD wurde am 22. Juni 1933 verboten.

Die Sozialdemokraten haben es nach 1945 vermieden, das absolute Fehlverhalten der bürgerlichen Parteien beim Votum zum Ermächtigungsgesetz anzuprangern. Schließlich saß man selber gewissermaßen in einem Glashaus, aus dem man tunlichst keine Steine werfen soll – gemeint ist die Mitschuld an der Zerstörung der Demokratie von Weimar.

Für die Ermächtigung Hitlers waren jedoch die übrigen demokratischen Parteien verantwortlich. Dazu sollten sich ihre Nachfolgerinnen bekennen. Sie – und die Sozialdemokraten! – sollten aufhören, „falsch Zeugnis“ zu reden: Hitler ist nicht nur durch die NSDAP, sondern auch durch die demokratischen Parteien der Mitte ermächtigt worden. Das Konzept der „wehrhaften Demokratie“ ist falsch. Die Demokratie kann auch durch Demokraten abgebaut und zerstört werden.


Der Historiker Wolfgang Wippermann gibt im Freitag Nachhilfeunterricht in Geschichte. Er schrieb zuletzt über NS-Kader bei der Urania in Westberlin

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