Verseucht von Gewalt
Von Norman Birnbaum
Als am vergangenen Freitag das Massaker von Connecticut die Eilmeldungen bestimmte, lief gleichzeitig seit Tagen eine öffentliche Debatte über die Folter von Gefangenen, angestoßen durch den neuen Film „Zero Dark Thirty“ über die Tötung Osama bin Ladens. Vielleicht ist das mehr als nur ein Zufall. Unsere Polizei hat schon lange Verdächtige beim Verhör gefoltert. In den Kriminalfilmen der 30er und 40er Jahre heißt das „der dritte Grad“. Unsere Polizeikräfte gehen mit den Bürgerrechten nicht zimperlich um. Bürgerrechtsorganisationen sind Vollzeit damit beschäftigt, um Entschädigungen für exzessive Polizeigewalt zu kämpfen. Indessen billigen die Gerichte der Polizei einen großen Interpretationsspielraum bei Entscheidungen darüber, was zulässig ist, zu. Gleiches gilt für die Häufigkeit , mit der die amerikanische Polizei zur Schusswaffe greift.
Allgemein wird das auf die Erfahrungen aus den Zeiten der Besiedelung zurückgeführt mit ihrer Selbstjustiz und dem Kampf gegen die Indianer. Diese Zeit ist mit Beginn des letzten Jahrhunderts von der Realität zur Erinnerung und schließlich zum Mythos geworden.
Mit dem Krieg gegen Mexico von 1846 bis 1848 begann die militärische Expansion amerikanischer Macht., ging weiter mit dem Krieg gegen Spanien 1898 und schloss jede Menge Interventionen in Lateinamerika ein, genau wie unsere zu unserem Vorteil getimten Kriegseintritte in die zwei großen Kriege des 20. Jahrhunderts. Es folgten die Vorbereitung auf Atomkriege mit der alten Sowjetunion und China, Kriege in Korea, Vietnam, auf dem Balkan und im mittleren Osten, die Stationierung von US-Truppen in so vielen Ländern, dass nicht einmal unsere Verteidigungsminister alle aufzählen können.
Geheimaktionen, die kaum geheim sind, die Organisation und Finanzierung von Kriegen durch Vasallen und Verbündete – wie etwa die Unterstützung des Irak gegen den Iran – gehören schon sehr zur Routine, dass jede Kritik daran völlig utopisch erscheint. Die Idee einer von Feinden umzingelten Nation entstand nicht am 11. September 2001, aber viele US-Amerikaner fanden sie an diesem Tag bestätigt.
Der Kampf gegen Gewaltkriminalität war immer und ist noch eine nur schlecht verschleierte Kampagne zur Kontrolle von Immigranten und Minderheiten. Eine perverse Interpretation des Zweiten Verfassungszusatzes – der das Waffentragen für öffentliche Zwecke wie lokale Milizen legitimierte – erlaubt es Privatpersonen große Arsenale von Schusswaffen anzuhäufen. Es gibt in den USA genauso viele Waffen aller Art wie Einwohner: 300 Millionen. Eines der meistgenannten Motive für individuellen Waffenbesitz ist nicht etwa die Jagd, sondern der Schutz vor „Verbrechen“. Ergebnis ist ein riesiges Ausmaß häuslicher Gewalt. Der Mörder von Connecticut brachte erst seine Mutter mit deren eigenen Waffen um, bevor er sich zur Sandy Hook Elementary School aufmachte.
Die Militarisierung großer Teile unserer Kultur (stellvertretend für viele und besonders unsere kriegstreiberischen Politiker, Professoren und Publizisten) ist Teil einer allgemeinen Legitimierung von Gewalt.
Als Osama bin Laden und seine Familie von US-Einheiten umgebracht wurden, die gar nicht erst versuchten, sie gefangen zu nehmen, versammelten sich vor dem Weißen Haus Menschen, die „USA! USA! USA!“ schrien, als wären sie bei einem Länderspiel. Eine bestimmte Art Patriotismus hat sich mit einem Männlichkeits- und Härtekult verbunden. Die schärfste Kritik an Obamas Außenpolitik lautet, dass sie nicht aggressiv genug sei. Auch der republikanische Herausforderer Mitt Romney griff im jüngsten Wahlkampf auf peinlich primitive Vorstellungen zurück.
Trotz starker kirchlicher, familiärer und nachbarschaftlicher Institutionen in großen Teilen unserer Gesellschaft geht gegenseitige Fürsorge und Solidarität in unserer Kultur immer mit einem Selbstbehauptungswahn einher, als sei niemand wirklich auf Unterstützung angewiesen. Das ist mehr Fiktion als Faktum. Jene Bundesstaaten, die republikanisch wählen, sind Nettoempfänger von Bundesmitteln: ihre Bürger sind abhängig vom Rest von uns, aber das hält sie nicht davon ab, unsere angebliche Unfähigkeit zu beklagen, für uns selbst Verantwortung zu übernehmen.
Es geht um eine soziale Atmosphäre und Glauben. Institutionen und Politiker sind auch involviert. Der Präsident war der Ansicht, dass er in seiner ersten Amtszeit genug zu tun hatte, um gegen die sehr mächtige Waffenlobby und die ihr treu ergebenen Volksvertreter vorzugehen.
Präsident John F. Kennedy war Opfer einer Verschwörung, aber Bürger mit Persönlichkeitsstörungen waren an dem geglückten Angriff auf Präsident Ronald Reagan beteiligt, genau wie an den gescheiterten auf Gerald Ford und Bill Clinton – vermutlich an einigen auf die beiden Bushs und auf Barack Obama, von denen die Öffentlichkeit nie etwas erfahren hat. Obama hat gute Gründe, jenes Drittel der Nation zu fürchten, das ihn für illegitim hält; vielleicht denkt er an die Sicherheit seiner eigenen Familie. Der Geheimdienst hat eine ganze Abteilung, die nur damit befasst ist, an Präsidenten gerichtete Drohungen in wütenden Blogeinträgen nachzugehen.
Wie wir in unseren Gemeinden und Schulen mit psychischen Problemen umgehen, kann nicht gerade als Modell der Präventivmedizin gelten. Die Seelsorge der Kirchen lässt viele außen vor. In einer komplexen und sich verändernden Gesellschaft, in der viele darum kämpfen und daran scheitern, ihren Platz zu finden, sind individuelle Abstürze unvermeidlich – sie bringen jede Menge Hass hervor. Diese verlorenen Seelen wandern durch die Landschaft, die von Gewaltdarstellungen in Filmen und Druckerzeugnissen, im Fernsehen und im Internet verseucht sind.
Die Nation betrauert die Toten von Connecticut, aber niemand denkt an die Hochzeitsgesellschaften in Asien, die von unseren Drohnen getroffen werden. Das ist verständlich: Wir bereiten uns längst auf den nächsten Horror zu Hause vor.
Norman
Birnbaum lebt in New York. Er lehrte als Soziologieprofessor an der
Georgetown University und beriet Robert sowie Edward Kenndy. Er war
Mitbegründer der New Left Review und
schreibt heute u.a. für The Nation