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Europas Schande

Ein Gedicht von Günter Grass


Dem Chaos nah, weil dem Markt nicht gerecht,

bist fern Du dem Land, das die Wiege Dir lieh.


Was mit der Seele gesucht, gefunden Dir galt,

wird abgetan nun, unter Schrottwert taxiert.


Als Schuldner nackt an den Pranger gestellt, leidet ein Land,

dem Dank zu schulden Dir Redensart war.


Zur Armut verurteiltes Land, dessen Reichtum

gepflegt Museen schmückt von Dir gehütete Beute.


Die mit der Waffen Gewalt das inselgesegnete Land

Heimgesucht, trugen zur Uniform Hölderlin im Tonister.


Kaum noch geduldetes Land, dessen Obristen von Dir

einst als Bündnispartner geduldet wurden.


Rechtloses Land, dem der Rechthaber Macht

den Gürtel enger und enger schnallt.


Dir trotzend trägt Antigone Schwarz und landesweit

kleidet Trauer das Volk, dessen Gast Du gewesen.


Außer Landes jedoch hat dem Krösus verwandtes Gefolge

alles, was gülden glänzt gehortet in Deinen Tresoren.


Sauf endlich, sauf! Schreien der Kommissare Claqueure,

doch zornig gibt Sokrates Dir den Becher randvoll zurück.


Verfluchen im Chor, was eigen Dir ist, werden die Götter

deren Olymp zu enteignen Dein Wille verlangt.


Geistlos verkümmern wirst Du ohne das Land

dessen Geist Dich, Europa, erdachte.



Uwe Theel über Europas Schande:


Warum Grass mir aus der Seele spricht

Auf sein Gedicht „Europas Schande“ hat Günter Grass erneut Häme und viel Kritik in den Medien erfahren. Wieder geht der Vorwurf durch die deutsche Öffentlichkeit, Grass habe seine SS-Mitgliedschaft zu lange verschwiegen und auf diese Weise seine Reputation verspielt. Für mich aber hat Grass in der eigenen Scham über Verstricktsein und Schweigen, die auch eine Scham der der Deutschen ist, Stellung bezogen gegen die „Unfähigkeit zu trauern“.

Ist es nicht nachvollziehbar, dass er den Deutschen vorhält, dass sie die Legitimation demokratischer Herrschaft nun offen und „problemlos“ für eine der schnöden Rendite des Kapitals eintauschen? Günter Grass übt eine linke Kritik, die sich seine Kritiker, und das sind nicht nur Ungebildete, schon immer verbeten haben. Warum sollten sie ihn dann gerade jetzt, im Angesicht der Kapitalkrise Griechenlands und Europas, plötzlich verstehen?

An Verrissen in Zeitungen und im Netz über das Grass-Gedicht mangelt es nicht, insbesondere der Verweis auf die Antike ist für viele seiner Gegner ein Beweis dafür, dass Grass mit seinem Gedicht daneben liegt. Was aber ist falsch an der Frage, was denn Demokratie sei, wenn sie nicht auch im Denken der attischen Antike wurzelt, einem Denken, das davon ausgeht., dass es Gesetze gibt, und nicht den Bruch mit ihnen und eine daraus resultierende Willkür?

Dahinter verbirgt sich doch kein idealisierendes „Verständnis der Antike“, sondern der Traum vom Ende der Herrschaft des Menschen über den Menschen. Der Traum des gerechten Lebens meint aber etwas anderes, als wenn bürgerliches Bewusstsein Bewusstsein und bürgerliche Herrschaft, jetzt, da sie wankt, sich auch noch der letzten Verkleidung ihrer ideologischen Legitimation entledigt, um die Kapitalinteressen zu rechtfertigen und nach deren Vorgaben zu leben.

Es stimmt zwar, dass einigen unausgegorenen Versen des Meisters in dem Gedicht „Europas Schande“ nicht nur formal die gewohnte Klarheit fehlt. Das gilt insbesondere für den Einstieg. Dort stellt Grass fest, dass die herrschende Politik dem Chaos nahe sei – was stimmt. Allerdings ist die Begründung flau: „weil „Du“ (das meint die Politik von Deutschland und der Europäischen Union) dem Markt nicht gerecht wurdest – ohne zu sagen, was Markt und Gerechtigkeit sei.

Wenn Grass dann aber das Antigone-Motiv einwebt, tut er das klar in dem Sinne, es gäbe, wenn auch keine göttliche, so doch eine menschliche, humane Ordnung der Dinge, die aber genauso nur um den Preis des Untergangs mißachtet oder gar verletzt werden kann. Das ist eine Tradition des Dichtens, die von Sophokles über Hölderlin bis Brecht und weiter reicht und nun abzureißen droht.

Ich halte dagegen und deshalb spricht mir Grass aus der Seele: Wenn er im Stil sophokleischer Verse schreibt, die doch nur wie Trümmer solcher Verse wirken, dann bildet diese Zerstörung des Lyrischen gleichsam die Zerstörung unserer realen Lebens- und Geistesgrundlagen ab. Das beantwortet dann auch die Frage: Hätte Grass das nicht auch „schöner“ machen können? Ganz sicher, aber er hat nicht aus Unfähigkeit darauf verzichtet.


Uwe Theel ist Lehrer für Deutsch und Politik und bloggt auf www.freitag.de


Anmerkung:

Lieber Uwe Theel, Sie sprechen mir aus der Seele: Wer Bildung statt mit „g“am Ende mit „k“ schreibt und in den Redaktionen der Mainstreammedien sitzt, hat Sophokles bestimmt nicht gelesen – und auch nicht begriffen. Geben wir ihnen allen ein „Ungenügend“.

Herzlichst, Ihr Dirk Schrader


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