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Der Traum von Großisrael

Von Patrick Seale


Der Blick auf das letzte Jahr ist mehr als ernüchternd: Der internationalen Gemeinschaft ist es nicht gelungen, einer Friedenslösung im israelisch-palästinensischen Konflikt auf der Grundlage einer Zwei-Staaten-Lösung näher zu kommen. Selbst die Vereinigten Staaten zeigten sich nicht in der Lage, Israels unnachgiebigen Zugriff auf immer mehr Land Einhalt zu gebieten. Es scheint, als ob nichts und niemand Israel in seinem Bestreben aufhalten könnte, seine Grenzen in Richtung „Großisrael“ auszuweiten.

Was aber wird die nahe Zukunft bringen? Wenn eine internationale Vermittlung weiterhin ausbleibt, wird Israel seinen Zugriff auf über 40 Prozent des Westjordanlandes, das Flusstal inbegriffen, weiter zu festigen versuchen – sei es durch Ausweitung der Siedlungen oder durch offene Annexion. Die arabisch besiedelten Zentren wie Nablus, Jericho und Ramallah wären dann vollends eingemauert, auch wenn Israel vielleicht noch einzelne Korridore nach Jordanien zuließe. Natürlich würde diese erste Stufe des Projekts von israelischer Seite als schmerzhaftes Zugeständnis dargestellt werden.

Käme Israel damit durch, könnte es im folgenden Stadium erheblich radikaler zugehen und möglicherweise auch zur Vertreibung großer Teile der palästinensischen Bevölkerung kommen. Wie 1948 und 1967 würde dies wahrscheinlich unter dem Deckmantel eines Krieges geschehen, der die Schaffung eines großisraelischen Gebiets zwischen Jordan und Mittelmeer vollenden würde.

Nach den Erfahrungen der letzten beiden Jahre dürfte kein Zweifel mehr bestehen, dass die Rechtskoalition unter Ministerpräsident Netanjahu fest entschlossen ist, die Schaffung eines Palästinenserstaates im Westjordanland zu verhindern. Eine Art Heimatgebiet der Palästinenser würde die israelische Regierung vielleicht noch eine Zeit lang dulden, aber einen eigenständigen palästinensischen Staat – niemals!

Netanjahu ist bekanntlich stark von en Überzeugungen seines Vaters geprägt, dem heute 101 Jahre alten Historiker Benzion Netanjahu. Dieser war einst Sekretär von Zeev Jabotinsky, dem „Vater des revisionistischen Zionismus“, und hat sein ganzes Leben lang leidenschaftlich an ein Großisrael geglaubt. So beteiligte er sich an einer Petition gegen den UN-Plan zur Teilung Palästinas vom 29. November 1947, weil er – wie viele Gleichgesinnte – ganz Palästina für die Juden haben wollte. Davon träumt er nach wie vor.

Ob Israel sich das Westjordanland nun zur Gänze oder „nur“ zu 40 Prozent aneignet: Unmittelbar betroffen wäre auf jeden Fall das Königreich Jordanien, das wahrscheinlich von palästinensischen Flüchtlingen regelrecht überrannt würde. Ariel Sharon, der die jüdische Siedlungstätigkeit in den besetzten Palästinensergebieten mit Nachdruck befürwortete, pflegte zu sagen: „Jordanien ist Palästina“. Daher hat Jordanien kürzlich verzweifelt versucht, den moribunden „Friedensprozess“ wieder neu zu beleben, indem es israelische und palästinensische Vertreter nach Amman einlud. Der Ertrag scheint – wie zu erwarten war – gleich Null gewesen zu sein.

Den schwersten Schlag erhielt der sogenannte Friedensprozess indes, als US-Präsident Barack Obama im vergangenen Jahr der Halsstarrigkeit Netanjahus nachgab. Nachdem Obama Hoffnungen auf eine neue, ausgewogenere US-Politik im Umgang mit dem arabisch-israelischen Konflikt geweckt hatte, schmerzt seine Niederlage umso mehr. Als Israel jegliches Entgegenkommen verweigerte, gab der Präsident einfach auf, ohne auch nur einen Anschein von Härte aufkommen zu lassen. Er trat gegenüber Israel nicht einmal für jene Politik des „Förderns und Forderns“ ein, die viele Beobachter des Konflikts – unter ihnen auch liberale Juden in Amerika – gefordert hatten. Obamas Versagen unterstrich die verheerende Bilanz, die aus dem amerikanisch dominierten Friedensprozess der vergangenen Jahrzehnte gezogen werden muss: Dieser hat lediglich als Deckmantel der Expansion Israels gedient.

Die massive finanzielle, politische und militärische Unterstützung, die die Vereinigten Staaten Israel zukommen lassen, scheint ihnen somit nicht den geringsten Einfluss auf die israelische Politik verschafft zu haben. Die Beeinflussung wirkte vielmehr genau andersherum: Israel ist es gelungen, maßgeblich die Nah- und Mittelostpolitik Washingtons zu gestalten. Ein ähnlich verblüffendes Beispiel für den sprichwörtlichen Schwanz, der mit dem Hund wedelt, findet sich wohl kaum ein zweites Mal in der Geschichte.

Die Araber sind ebenfalls nicht in der Lage, Israels Expansion aufhalten zu können. Der arabische Frühling hat sie in dieser Hinsicht geschwächt: Ihre Führer – ob revolutionär oder nicht – ringen darum, die Auswirkungen der Volkserhebung zu bewältigen. Für die Sache der Palästinenser bleibt da wenig Zeit oder Kraft. Die Palästinenser sind, ob besetzt oder belagert, nach wie vor tief gespalten: Fatah und Hamas zeigen sich weiterhin zerstritten und unfähig, eine Einheitsfront zu schaffen, obwohl das palästinensische Land vor ihren Augen dahinschwindet.

Kein Wunder, dass die israelischen Hardliner den Eindruck haben, Großisrael sei derzeit in greifbare Nähe gerückt. Noch ein weiterer Stoß, scheinen sie zu glauben, und sie haben es geschafft. Auf jeden Fall scheint dies für die Ultra-Orthodoxen zu gelten, die mehr denn je der israelischen Gesellschaft ihren fundamentalistischen Stempel aufdrücken wollen. Bereits heute sind ihre Angehörigen tief ins Offizierskorps der israelischen Streitkräfte vorgedrungen. Gleiches gilt für die religiösen Nationalisten, ihre Anhängerschaft aus gewaltbereiten Siedlern und für politische Hardliner wie Netanjahu selbst. Sie alle scheinen zu glauben, durch die Schwächung und innerer Zerrüttung seiner Nachbarn – und die Instrumentalisierung amerikanischer Macht für sein Vormachtstreben, gegenwärtig vor allem gegenüber dem Iran – werde Israel in die Lage versetzen, die gesamte Region auch für die absehbare Zukunft militärisch zu dominieren. Frieden, territoriale Zugeständnisse und friedliche Koexistenz passen nicht in ihr Weltbild.

Unter Politikern wie Netanjahu haben sich in der israelischen Gesellschaft entscheidende Veränderungen vollzogen. Zu diesen zählt eine alarmierende Zunahme von Intoleranz, Rassismus und Brutalität. Selbst Israels sogenannte liberale Mittelschicht, deren Angehörige im vergangenen Jahr zu Tausenden auf den Straßen kampierten, um auf ihre wirtschaftlichen Probleme aufmerksam zu machen, interessiert sich nur am Rande für den Hass, den das Land durch die anhaltende Unterdrückung und Enteignung der Palästinenser befördert.

Der arabisch-israelische Konflikt – und in dessen Zentrum das Palästinenserproblem – hat das ganze 20. Jahrhundert hindurch Kriege, Massaker und zahllose weitere Gewalttaten verursacht. Dies scheint sich auch in diesem Jahrhundert fortzusetzen. Am Ende könnte sich herausstellen, dass Israels erbarmungsloser Ansturm auf Gaza 2008/2009 nur Vorbote künftiger, noch düsterer Geschehnisse war.

Im vergangenen Oktober hat Tony Klug, ein führender britischer Nahostexperte, in einer Rede an der London School of Economics das Anwachsen der israelischen Siedlerbevölkerung von 5000 Personen Anfang der 1970er Jahre auf heute 500 000 Personen als „ einen der längsten Abschiedsbriefe in der Geschichte staatlicher Selbstmorde“ bezeichnet. „Israel steht jetzt vor einer schwierigen Entscheidung“, so Klug: „Es muss jede weitere Siedlertätigkeit komplett einfrieren, um schnelle und konzentrierte Verhandlungen auf der Grundlage der Grenzen vor 1967 bei gerechten Gebietsaustauschmaßnahmen vorzubereiten – oder sich darauf einstellen, permanent im Konflikt zu leben und international auf unabsehbare Zeit einen Paria-Status einzunehmen.“

Ist aber der dafür notwendige Regimewechsel in Israel möglich? Ein Wunder kann nicht ausgeschlossen werden. Doch bisher gibt es keinerlei Anzeichen für das große Erwachen in der Bevölkerung, das eine derartige Entwicklung voraussetzen würde. Ist es nicht an der Zeit, dass die internationale Gemeinschaft ein Paket aus Sanktionen und Anreizen schnürt, das Israel zu einem Kurswechsel veranlassen könnte? Das Ziel muss dabei zweifellos sein, nicht nur Israel vor der Selbstzerstörung zu bewahren, sondern der ganzen Region des Nahen und Mittleren Ostens einen Leidensweg zu ersparen, der ansonsten in den schrecklichsten Krieg ihrer neueren Geschichte münden könnte.

Copyright: Agence Global, Blätter für deutsche und internationale Politik 2´12

Patrick Seale ist britischer Journalist und Publizist

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