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Der Gini-Index

oder

Das Märchen von der Umverteilung

Von Max Löffler


Die Spitzen der drei linken Parteien haben die Bundestagswahl 2013 zur Richtungsentscheidung in Sachen sozialer Gerechtigkeit ausgerufen. Nach einem Wahlsieg ginge es also direkt in Richtung Sonne und Freiheit: Der Spitzensteuersatz steigt, der Mindestlohn kommt, die Bürgerversicherung ebenso. Es fließt mehr Geld in Bildung und die ALG-II-Regelsätze steigen, zumindest ein bisschen. Die bisher vorgeschlagenen Projekte würden sicherlich dazu beitragen, das Auseinanderdriften von Arm und Reich zu verlangsamen. Aber wie viel bewirken die einzelnen Maßnahmen wirklich? Können sie die Schere auch wieder schließen? Oder braucht es dafür radikalere Antworten?

Um die Fragen nicht allein aus dem Bauch heraus, sondern mit Hilfe konkreter Ungleichheitsmaße zu beantworten, bietet sich der sogenannte Gini-Koeffizient an. Dieser beträgt null, wenn alle Personen über das exakt gleiche Einkommen (oder, je nach Betrachtungsweise, Vermögen) verfügen, und nimmt den Wert eins an, wenn eine einzelne Person alles besitzt und alle anderen gar nichts.

Allein zwischen 2002 und 2007 ist der Gini-Index der Vermögensverteilung in Deutschland um knapp drei Prozent auf 0,799 gestiegen. Damit rückt Deutschland immer näher an die USA und entfernt sich von vergleichbaren OECD-Ländern wie Kanada, Finnland oder Großbritannien.

Der Blick auf die Einkommensverteilung ergibt ein ähnliches Bild: Während die Bundesrepublik über Jahrzehnte hinweg eine gleichmäßige Verteilung aufwies, befindet sie sich inzwischen nur noch im Schnitt der OECD-Staaten (Gini-Index 0,3). Damit ist sie inzwischen weit entfernt von den skandinavischen Ländern (Gini von 0,25), auf deren Niveau sie noch vor wenigen Jahren lag. Die Frage ist jetzt: Was können die genannten Reformvorschläge an dieser Situation ändern?


Der Mindestlohn ist nicht mehr als ein kleiner Baustein.

Beispiel Mindestlohn: Ein Mindestlohn soll bei Arbeitnehmern mit geringen Löhnen zu einer Steigerung des Einkommens führen und damit die Ungleichheit senken. Doch am unteren Ende der Einkommensskala wird ein Mindestlohn gar keinen Effekt haben, weil man nur von ihm profitieren kann, wenn man eine Arbeitsstelle hat. Selbst für Geringverdienerhaushalte ist nicht gesagt, dass das Nettoeinkommen erheblich höher ausfällt als vorher. Ein Mindestlohn von 7,50 Euro pro Stunde – wie ihn im letzten Wahlkampf SPD, Grüne und Gewerkschaften forderten – würde den Gini-Koeffizienten bestenfalls um kaum spürbare 0,4 Prozent (oder 0,0012 Gini-Punkte) senken, wahrscheinlich sogar noch weniger

Vgl. Viktor Steiner, Mindestlöhne, Lohnsubventionen und Einkommenssicherung im Wohlfahrtsstaat. FU Berlin, Fachber. Wirtschaftswissenschaft.

Die Bedeutung von Löhnen und Beschäftigung für die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums kann zwar kaum unterschätzt werden. Der Mindestlohn allein ist jedoch nicht mehr als ein kleiner Baustein.

Beispiel Reichensteuer: SPD und Grüne beschlossen Ende letzten Jahres auf ihren Bundesparteitagen jeweils die Anhebung des Spitzensteuersatzes auf 49 Prozent. Während die SPD nur Einkommen über 100 000 Euro jährlich stärker belasten will, plädieren die Grünen für die Einführung einer neuen Tarifzone am Beginn des heutigen Spitzensteuersatzes. Der Tarifverlauf würde gestreckt und die Steuersätze stiegen langsam an, bis ein Einkommen über 80 000 Euro der neuen Spitzensteuersatz von 49 Prozent erreicht wäre. Die Linkspartei will zwar den Spitzensteuersatz bereits für Einkommen ab 65 000 Euro auf 53 Prozent anheben (inzwischen ist auch ein Steuersatz von 100 Prozent für Einkommen über 40 000 Euro im Monat und damit faktisch eine Gehaltsobergrenze im Gespräch), dafür aber untere und mittlere Einkommen so stark entlasten, dass der Staat – anders als bei SPD und Grünen – im Endeffekt weniger und nicht mehr Geld einnehmen würde.

So richtig auch hier der Ansatz ist: Der Vorschlag der Linkspartei ist schwer vereinbar mit dem Konsolidierungsdruck der Schuldenbremse. Grüne und besonders die SPD blinken zwar links, biegen dann aber nicht ab. Die Anhebung des Spitzensteuersatzes ab 100 000 Euro beträfe nicht einmal ein halbes Prozent der Bevölkerung, der Gini-Koeffizient würde um kosmetische 0,6 Prozent sinken. Beim grünen Vorschlag sieht es kaum anders aus.


Die Finanzierung der Sozialversicherungen belastet kleinere Einkommen überproportional.

Beispiel Bürgerversicherung: Auf sie trifft eine ähnliche Diagnose zu. Die Krankenversicherung hätte eine deutlich breitere Finanzierungsbasis, wenn einerseits auch Beamte und Selbständige Mitglied sein müssten und andererseits nicht nur das Arbeitseinkommen, sondern auch Kapital- und Mieteinnahmen bei der Berechnung des Beitrags berücksichtigt würden. Außerdem könnten sich Gutverdiener nicht länger mit dem Wechsel in die private Krankenversicherung dem Solidarprinzip entziehen. Doch weil die Beitragsbemessungsgrenze beibehalten werden soll, bliebe die die zentrale verteilungspolitische Stellschraube weitgehend unangetastet. Ab dieser Grenze steigen die Versicherungsbeiträge nicht mehr proportional mit dem Einkommen an, sondern bleiben konstant. Egal, ob man 3825, 10 000 oder 100 000 Euro verdient – der Krankenversicherungsbeitrag läge für angestellte Arbeitnehmer immer bei 314 Euro.

Für die Pflege-, Arbeitslosen- und Rentenversicherung gelten ganz ähnliche Regelungen. Die Finanzierung der Sozialversicherungen belastet kleinere Einkommen insgesamt überproportional und wirkt damit höchst regressiv. Im Klartext: Selbst eine Bürgerversicherung würde die Ungleichheit kaum ändern.

Das gute Bauchgefühl mag die drei vorgeschlagenen Reformen zwar für verteilungspolitisch wirksam halten. Doch um das gesellschaftliche Auseinanderdriften nicht nur zu verlangsamen, sondern es sogar umzukehren, werden sie kaum ausreichen, sie haben lediglich kosmetische Effekte.


Um das gesellschaftliche Auseinanderdriften umzukehren, gäbe es eine wirkungsvollere Lösung.

Stattdessen gäbe es eine deutlich wirkungsvollere Lösung – nämlich eine radikale Wende hin zu einer Steuerfinanzierung der Sozialsysteme. Inzwischen ist zwar bekannt, dass Steuererhöhungen ab einem gewissen Punkt nicht mehr zu Mehreinnahmen führen, sondern sogar Geld kosten: Denn weil ihnen die zusätzliche Freizeit lieber ist als das größtenteils wegbesteuerte Einkommen, ziehen es viele Menschen vor, weniger zu arbeiten. Dieser Zusammenhang ist auch als „Laffer-Kurve“ bekannt – und vor allem die FDP verweist gerne und oft darauf.

Es gilt jedoch umgekehrt auch, dass bis zu diesem Punkt die Steuern ohne Probleme steigen können. Der optimale Steuersatz wäre gerade dann erreicht, wenn die Mehreinnahmen die negativen Erwerbsanreize ausgleichen und jede weitere Steuererhöhung sinnlos würde. An diesem Punkt sind aber die gültigen Einkommenssteuersätze noch längst nicht angekommen: Entsprechende Berechnungen legen schon für Einkommen von gut 50 000 Euro einen Steuersatz deutlich über 50 Prozent nahe.

Vgl. Stefan Bach et al., Optimal Top Marginal Tax Rates under Income Splitting for Couples, 2011, CEPR Discussion Paper Series, 8435.

Der optimale Spitzensteuersatz wäre ab einem Einkommen von rund einer halben Mio. Euro fällig und läge bei gut 65 Prozent.

Etliche empirische Studien haben zudem gezeigt, dass die Erwerbsanreize für Geringverdiener eine viel größere Rolle spielen als für Spitzenverdiener. Denkt man diesen Ansatz konsequent zu Ende, dann müssten kleine und mittlere Einkommen stärker entlastet werden. Während die durchschnittliche Belastung mit Steuern und Abgaben heute schon bei kleinen Einkommen ansetzt und dann sehr schnell ansteigt, bleibt sie ab 60 000 Euro fast konstant.

Schuld daran ist zum großen Teil die regressive Ausgestaltung der Sozialversicherungen. Zugleich sinkt auch die Progressivität der Einkommenssteuer, weil Sozialabgaben in größerem Umfang als früher von dem zu versteuernden Einkommen abgezogen werde können. Höhere Einkommen werden also prozentual geringer belastet.

Konsequent wäre es deshalb, alle vier Sozialversicherungszweige von der Beitragsfinanzierung zu lösen und auf eine Steuerfinanzierung umzustellen. Die heutigen Sozialbeiträge entfielen, die Bemessungsgrundlage der Einkommenssteuer könnte massiv vereinfacht und ausgeweitet werden, und die Versicherungsleistungen würden direkt aus dem Steueraufkommen finanziert. Anders als oft behauptet, müssten weder Effizienz noch Qualität der Versicherungen darunter leiden. Zudem könnte dieser Schritt genutzt werden, um die Rentenversicherung demographisch nachhaltig zu gestalten. Mittlere Einkommen könnten spürbar entlastet, geringe Einkommen unter 10 000 Euro sogar ganz von Steuern und Abgaben befreit werden. Der Gini-Index ließe sich ohne weiteres um fünf bis zehn Prozent senken.

Vgl. Max Löffler et al., Effizient, einfach und gerecht: Ein integriertes System zur Reform von Einkommensteuer und Sozialabgaben, in: „Perspektiven der Wirtschaftspolitik“, 2/2012 (i.E.)

Diese Forderungen sind nicht neu. Vergleicht man die Wirkung von Mindestlohn, Reichensteuer und Bürgerversicherung mit dem Effekt, den steuerfinanzierte Sozialversicherungen und optimale Steuersätze haben könnten, dann wird klar, wo verteilungspolitisch die Musik spielt. Wenn es der politischen Linken mit der Verteilungsfrage ernst ist, dann darf sie auch vor radikalen Lösungen nicht zurückschrecken.


Max Löffler ist Wirtschaftswissenschaftler, Mitglied im Bundesparteirat von Bündnis 90/Die Grünen.

Ersterscheinung www.blaetter.de

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