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Vaterunser des polnischen Widerstands


1939 bis 1945 wütete die deutsche Besatzung in Polen. Der polnische Widerstand, die polnische Untergrundorganisation, kämpfte ununterbrochen gegen die Nazis – mit allen Mitteln der Verzweiflung. Darüber ist wenig bekannt und geschrieben worden. In dem Buch Mein Bericht an die Welt, Geschichte eines Staates im Untergrund von Jan Karski, herausgegeben von Céline Gervais-Francelle, aus dem englischen Originaltext (Story of a Secret State, 1944) und der französischen Neuausgabe von 2010 übersetzt von Franka Reinhardt und Ursula Schäfer, findet sich dieses einzigartige Dokument auf Seite 387:


Vater unser, der du bist im Himmel, schaue auf das geschundene Polen


Geheiligt werde dein Name an diesem Tag unserer unendlichen Verzweiflung, in diesen Tagen unseres ohnmächtigen Schweigens.


Dein Reich komme, wir beten es jeden Morgen und wiederholen beharrlich: Dein Reich komme in ganz Polen, und in strahlender Freiheit möge Deine Botschaft von Frieden und Liebe in Erfüllung gehen.


Dein Wille geschehe, wie im Himmel, also auch auf Erden. Dein Wille geschehe. Doch es kann nicht Dein Wille sein, dass Mord und Ausschweifung in der Welt herrschen und das Blut bin Strömen fließt. Möge es Dein Wille sein, dass die feuchten Gefängniszellen leer bleiben, dass keine Leichen mehr in Gruben im Wald geworfen werden, dass die Peitsche des Satans in Menschengestalt nicht länger Schrecken über uns bringt. Dein Wille geschehe am Himmel und in der Luft und schicke uns Licht und Wärme statt Bomben und Angst. Lass Flugzeuge Boten des Glücks und nicht des Todes sein. Dein Wille geschehe auf der Erde. Herr, blicke auf unser Land, das mit Gräbern bedeckt ist, und erleuchte den Weg unserer Söhne, Brüder und Väter, der polnischen Soldaten, die sich zurück nach Polen kämpfen. Mach, dass die See die Ertrunkenen zurückgibt, das weite Land die Begrabenen, der Wüstensand und der Schnee Sibiriens die Leichen unserer Lieben zurückgeben.


Unser täglich Brot gib uns heute. Unser tägliches Brot ist unerträgliche Qual: Es ist Weggehen und Deportierung und Tod in Verliesen, Tod durch die Kugeln des Erschießungskommandos, Tod durch Folter in Lagern, Tod durch Verhungern und Tod auf dem Schlachtfeld. Es ist die Not, schweigen zu müssen, während uns erstickte Schmerzensschreie in den Kehlen stecken bleiben; unser täglich Brot ist, dass wir die Fäuste ballen und unsere Zähne zusammenbeißen in der Stunde, die nach blutiger Rache ruft. Gib uns, o Herr, zu diesem unserem täglichen Brot die Kraft des Durchhaltens, Geduld und Willensstärke, dass wir schweigen können und nicht schreien, bevor unsere Schicksalsstunde geschlagen hat.


Und vergib uns unsere Schuld. Vergib uns, o Herr, wenn wir zu schwach sein sollten, um das Ungeheuer zu zerschmettern. Stärke unseren Arm, damit er in der Stunde der Rache nicht zittert. Sie haben gegen Dich gesündigt, haben gegen Deine ewigen Gesetze verstoßen. Lass uns nicht gegen Dich sündigen mit Schwäche, wie sie gesündigt haben mit verbrecherischer Ausschweifung.


Und führe uns nicht in Versuchung. Führe uns nicht in Versuchung, sondern vernichte die Verräter und Spione unter uns. Lass nicht zu, dass Geld die Herzen der Reichen verblendet. Mach, dass die, die genug haben, den Hungernden zu essen geben. Mach, dass die Polen sich überall und jederzeit erkennen. Mach, dass unsere Münder verschlossen bleiben, wenn die Folter unsere Knochen bricht. Und führe uns nicht in Versuchung, dass wir morgen vergessen, was wir heute erleiden.

Sondern erlöse uns von dem Bösen. Erlöse uns von dem Bösen, dem Feind des polnischen Landes. Errette uns, o Herr, von den Wegen und dem Elend der Deportation, von Tod zu Land, in der Luft, auf See, von Verrat durch unsere eigenen Leute.


Amen. Lass uns wieder die Herren auf unserem eigenen Boden sein. Mach, dass unsere Herzen ruhen mit der Stille der See und der Schönheit unserer Berge. Lass uns die hungrigen Massen nähren in Deinem Sonnenlicht, o Herr. Lass uns Gerechtigkeit in einem das Recht liebenden Polen herstellen.

Amen. Gib uns Freiheit, o Herr! Amen.


Frühjahr 1942. Viele Zeitungen haben es nachgedruckt. Tausende Jungen und Mädchen haben es in geheimen Schulen auswendig gelernt.

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