zurück zu www.kritische-tiermedizin.de
Ihr Name war Schweigen,
seiner war Macht
Der Fall Strauss-Kahn und die Geschichte des IWF
Von Rebecca Solnit
Wie soll ich eine Geschichte erzählen, die wir doch schon allzu gut kennen? Ihr Name war Afrika. Seiner Frankreich. Er kolonisierte sie, beutete sie aus, machte sie mundtot. Und noch Jahrzehnte später, als es angeblich längst vorbei war, regelte er selbstherrlich ihre Angelegenheiten, etwa in der Elfenbeinküste, einem Land, das seinen Namen dem Elfenbei – einst sein wichtigstes Ausfuhrerzeugnis -, aber nicht der eigenen Identität verdankte.
Sie hieß Asien. Er Europa. Ihr Name war Schweigen. Seiner war Macht. Ihr Name: Elend. Der seine: Reichtum. Ihr Name war Ihr, aber was gehörte Ihr? Seine Name war Sein, und in in seinen Augen war alles seins, sie inbegriffen, und er dachte, er könne sie nehmen, ohne zu fragen und folgenlos. Es war eine uralte Geschichte, doch ihr Ausgang hat sich im Laufe der letzten Jahrzehnte etwas verändert. Und diesmal erschüttern die Folgen allerlei Grundfesten, die der Erschütterung offenkundig dringend bedurften.
Wer würde wohl je eine derart platte und plumpe Fabel zu Papier bringen wie d9ie Geschichte, die wir da eben hörten? Der mit außergewöhnlicher Macht ausgestattete Chef des Internationalen Währungsfonds (IWF) – einer Weltorganisation, die, ungeachtet der Reformversuche Strauss-Kahns, Massenarmut und wirtschaftliche Ungerechtigkeit produziert – ist angeblich über ein „Zimmermädchen“, eine Immigrantin aus Afrika, hergefallen, in der Luxussuite eines New Yorker Hotels.
Da prallen Welten aufeinander. In früheren Zeiten wäre ihr Wort gegen seines wertlos gewesen und sie hätte möglicherweise gar nicht gewagt, Anzeige zu erstatten. Oder die Polizei wäre der Sache möglicherweise nicht nachgegangen und hätte Dominique Strauss-Kahn nicht in letzter Minute aus dem Flieger nach Paris gezerrt. Doch die Frau tat es, und die Polizei tat es. Jetzt sitzt er in Untersuchungshaft, und der europäischen Wirtschaft wurde ein Schlag versetzt, die französische Politik wurde durcheinandergewirbelt, und jetzt erforschen die Franzosen bestürzt ihr Gewissen.
Was haben sie sich eigentlich gedacht, diese Männer, die beschlossen, Strauss-Kahn trotz aller Geschichten, aller Beweise seiner Lasterhaftigkeit, in eine so einzigartige Machtposition zu versetzen? Was ging in seinem Kopf vor, als er glaubte, damit durchkommen zu können. Dachte er, er wäre in Frankreich, wo er ja offenkundig davongekommen war? Erst jetzt wagt dort eine junge Frau, Strauss-Kahn öffentlich zu beschuldigen, sie im Jahr 2002 sexuell belästigt zu haben – die eigene Mutter, eine Politikerin, hatte ihr das seinerzeit ausgeredet, und die Betroffene selbst hatte um ihre journalistische Karriere gefürchtet (während die Mutter sich offensichtlich mehr um seine Karriere sorgte).
Dem „Guardian“ zufolge verleihen diese Geschichten auch „Behauptungen von Piroschka Nagy, einer aus Ungarn stammenden Wirtschaftswissenschaftlerin“, zusätzliches Gewicht, der Fondchef habe sie, als sie für den IWF arbeitete, „massiv belästigt“ und ihr das Gefühl vermittelt, sie habe kaum eine andere Wahl, als beim Wirtschaftsforum in Davos im Januar 2008 mit ihm zu schlafen. Er habe, behauptet sie, immer wieder angerufen und E-Mails geschickt, wobei er vorschützte, Fragen zur Ökonomie Ghanas (ihrem Fachgebiet) stellen zu wollen, aber dann sexuelle Ausdrücke benutzte und ihr vorschlug, mit ihm auszugehen.“
Manchen Berichten zufolge stammt die Frau, die Strauss-Kahn beschuldigt, ihr in New York Gewalt angetan zu haben, aus Ghana, andere bezeichnen sie als Muslima aus dem nahebei gelegenen Guinea. „Ghana – in der Gefangenschaft des IWF“ lautete 2001 ein Titel der für gewöhnlich zurückhaltenden BBC. Der zugehörige Bericht dokumentiert, wie die IWF-Politik die Ernährungsgrundlagen dieses Reis produzierenden Landes zerstört hatte, indem sie es für billigen Importreis aus den USA öffnete und die Mehrzahl seiner Einwohner in bittere Armut stürzte. Alles wurde zur Ware, für die man teuer bezahlen musste – ob man eine Toilette benutzen wollte oder einen Eimer Wasser brauchte -, und viele konnten nicht zahlen. Es passte vielleicht zu gut, wenn es sich bei der New Yorker Hotelangestellten um eine Frau handelte, die vor der IWF Politik aus Ghana fliehen musste. Was andererseits Guinea betrifft: dieses Land konnte sich dank der Entdeckung bedeutender Ölreserven aus den Händen des IWF befreien, leidet aber weiterhin unter massiver Korruption und wirtschaftlicher Ungleichheit.
Zuhälterei im Dienst des globalen Nordens
Evolutionsforscher haben stets gerne folgendes Axiom zitiert: „Die Ontogenese rekapituliert die Phylogenese“ oder, anders gesagt, die Entwicklung des Individuums wiederholt vom Embryo an die Evolution der Gattung. Spiegelt die Ontogenese dessen, was sich in der New Yorker Hotelsuite abgespielt haben soll, die Phylogenese des Internationalen Währungsfond wider? Schließlich entstand diese Organisationgegen Ende des Zweiten Weltkriegs im Rahmen der berühmt-berüchtigten Bretton-Woods-Konferenz, die dem Rest der Welt Amerikas wirtschaftliche Visionen aufzwang.
Der IWF war als Institution gedacht, die Geld verleiht, um Entwicklung der Nehmerländer zu fördern. Seit den 1980er Jahren handelte er jedoch im Geiste einer Ideologie – des Freihandels- und Marktfreiheits-Fundamentalismus. Er benutzte seine Kredite, um sich enorme Macht über Wirtschaft und Politik vieler Länder im globalen Süden zu verschaffen.
Aber während der IWF die ganzen 1990er Jahre hindurch immer mächtiger wurde, verlor er diese Macht im 21. Jahrhundert dank des kraftvollen Widerstands gegen die von ihm verkörperten Wirtschaftsstrategien und den wirtschaftlichen Zusammenbr. uch, den diese Methoden herbeiführten. Strauss-Kahn wurde gerufen, um eine Organisation vor dem Schiffbruch zu retten, die sich 2008 gezwungen sah, ihre Goldreserven zu verkaufen und ihren Auftrag neu zu erfinden.
Ihr Name war Afrika. Er hieß IWF. ER richtete sie dazu her, ausgeplündert zu werden, über kein Gesundheitswesen mehr zu verfügen, zu verhungern. Er setzte sie der Verwüstung aus, damit seine Freunde sich bereichern konnten. Ihr Name war globaler Süden. Seiner Washington-Konsens. Aber seine Glücksträhne lief aus, während ihr Stern aufging.
Es war der IWF, der die ökonomischen Bedingungen schuf, an denen Argentiniens Wirtschaft schließlich 2001 zugrunde ging. Und es war der Aufstand gegen den IWF (und andere neoliberale Kräfte), der Lateinamerikas Wiedergeburt im Verlauf der letzten Dekade möglich machte. Was auch immer man von Hugo Chávez halten mag: Es waren Darlehen aus dem ölreichen Venezuela, die Argentinien in die Lage versetzten, seine IWF-Kredite frühzeitig zurückzuzahlen und so eine eigenständige, vernünftigere Wirtschaftspolitik zu entwickeln.
Der IWF glich einem Raubtier. Er lieferte Entwicklungsländer den wirtschaftlichen Übergriffen des reichen Nordens und mächtiger Multis aus. Er war ein Zuhälter. Vielleicht ist er das immer noch. Aber seit die Demonstrationen von Seattle gegen die Macht der Konzerne im Jahre 1999 eine globale Bewegung entflammt haben, sieht der IWF sich mit einer Revolte konfrontiert. Die neuen Kräfte haben in Lateinamerika gesiegt und damit die Rahmenbedingungen aller vernünftigen Wirtschaftsdebatten ebenso verändert wie sie unsere Vorstellungswelt in Sachen Ökonomie und Alternativen bereicherten.
Heute wankt der IWF, die Welthandelsorganisation (WTO) ist z8iemlich kaltgestellt, die NAFTA fast überall in Verruf, die panamerikanische Freihandelszone Free Trade Area oft the Americas abgesagt, und große Teile der Welt haben aus dem Jahrzehnt des wirtschaftlichen Crash-Kurses eine Menge gelernt.
„Der Fremde im Zug“
In der „New York Times“ las man es so: „ Als die Tragweite des Falls Strauss-Kahn klar wurde, gab es weitere Stimmen, darunter einige in den Medien, welche lange Zeit unterdrückte oder anonym gebliebene Berichte über das öffentlich machten, was sie Strauss-Kahns Raubtierverhalten Frauen gegenüber nannten, und darüber, wie er diese sexuell bedrängte – Stimmen, die von Studentinnen und Jounalistinnen bis zu Untergebenen reichten.“
Er verbreitete also, anders gesagt, eine für Frauen unangenehme oder sogar gefährliche Atmosphäre um sich. Hätte er das in einem kleinen Büro getan, wäre das ein Thema für sich. Aber dass ein Mann, der über das Schicksal der ganzen Welt mit zu entscheiden hat, seine Kräfte der Verbreitung von Angst, Not und Ungerechtigkeit in seiner engsten Umgebung widmete, sagt einiges über den Zustand unserer Welt und die Werte der Staaten und Institutionen aus, die sein Verhalten und das von Männern wie ihm tolerierten.
Die Vereinigten Staaten selbst hatten in der jüngsten Zeit gewiss keinen Mangel an Sexskandalen, die nach der gleichen Arroganz riechen, doch gab es in diesen Fällen (so weit wir wissen) zumindest gegenseitiges Einverständnis. Der IWF-Chef wird der sexuellen Nötigung bezichtigt. Wen dieser Begriff irritiert, der streiche das Wort „sexuell“ und konzentriere sich ganz einfach auf „Nötigung“, auf die Gewalt, auf die mangelnde Bereitschaft, jemanden als Mitmenschen zu behandeln, auf die Verweigerung der elementarsten Menschenrechte, nämlich des Rechts auf körperliche Unversehrtheit und Sicherheit. Les droits de l´homme lautete eine der großartigen Losungen der Französischen Revolution, doch es stand stets in Frage, ob sie die Frauenrechte einschloss.
Die Vereinigten Staaten haben Millionen Mängel, aber ich bin stolz darauf, dass die Polizei dieser Frau glaubte und dass sie mit ihrer Stunde im Gerichtssaal rechnen kann. Diesmal erfüllt es mich mit Befriedigung, mich nicht in einem Land aufzuhalten, das beschlossen hat, die Karriere eines mächtigen Mannes oder das Schicksal einer internationalen Institution sei wichtiger als diese Frau, ihre Rechte und ihr Wohl. Ebendies verstehen wir unter Demokratie: dass jede und jeder eine Stimme hat, dass niemand sich bloß wegen seines Wohlstands, seiner Macht, Hautfarbe oder seines Geschlechts aus der Affäre ziehen kann.
Zeit Tage bevor Strauss-Kahn angeblich nackt aus dem Badezimmer besagten Hotels auftauchte, gab es in New York eine große Demonstration. „Make Wall Street Pay“, Wall Street soll zahlen, lautete die Parole, und über 20 000 Menschen – Gewerkschafter, Aktivisten, Arbeitslose und andere mehr – versammelten sich, um gegen die wirtschaftliche Gewalt in diesem Lande zu protestieren, gegen die Nötigung, die Vielen Leid und Entbehrungen bringt – und Wenigen obszönen Reichtum.
Ich war dabei. Nachher, auf der Rückfahrt nach Brooklyn, passierte es der jüngsten meiner Begleiterinnen in dem überfüllten U-Bahn-Wagen, dass ein Mann, etwa so alt wie Strauss-Kahn, nach ihrem Po grabschte. Zuerst dachte sie, er habe sie nur versehentlich angerempelt. Doch dann spürte sie, wie er ihre Pobacke packte – und wandte sich mir zu, um irgendetwas zu sagen, wie es junge Frauen in einer solchen Situation oft tun, zögernd, leise, als ob es vielleicht überhaupt nicht wahr wäre oder vielleicht gar nicht so wichtig. Schließlich fasste sie ihn wütend ins Auge und sagte, er solle das lassen. Ich fühlte mich an eine Situation erinnert, die ich als 17jährige erlebt habe. Damals wohnte ich in Paris und nagte am Hungertuch. Eines abends auf der Straße grapschte irgendein alter Knacker nach meinem Arsch – und das war mein wohl amerikanischster Augenblick in Frankeich, damals das Land der tausend verächtlichen Grapscher. Amerikanisch war er, weil ich, die von ihrem bisschen Geld gerade drei Pampelmusen gekauft hatte, diese Pampelmusen eine nach der anderen wie Baseballs auf den Widerling schleuderte, der sich daraufhin zu meiner großen Genugtuung ins Abenddunkel verdrückte.
Sein Verhalten, wie all die sexuelle Gewalt gegen Frauen, sollte mir zweifellos in Erinnerung rufen , dass diese Welt nicht die meine war und dass meine Rechte – meine liberté, egalité, sororité sozusagen – keine Rolle spielten. Nur dass ich ihn in ein Obst-Sperrfeuer hatte laufen lassen. Und Dominique Strauss-Kahn wurde aus einem Flugzeug gezerrt, damit er sich vor Gericht verantwortet. Dass eine meiner Freundinnen auf dem Rückweg von einer Demonstration für Gerechtigkeit angegrapscht wurde, wirft dennoch ein Licht darauf, wie viel immer noch zu tun ist.
Die Armen verhungern, die Reichen bedauern
Was dem Sexskandal um Strauss-Kahn so viel Aufmerksamkeit verschafft, ist die geradezu modellhafte Art und Weise, in der der angebliche Täter und das Opfer für übergeordnete Verhältnisse weltweit stehen, angefangen mit den Übergriffen des IWF gegen die Armen. Diese Übergriffe sind Bestandteil des großen Klassenkrieges unserer Zeit., in dem die Reichen und ihre regierenden Stellvertreter es darauf anlegen, ihre Besitzstände auf Kosten anderer, auf unser aller Kosten noch zu vermehren. Die armen Entwicklungsländer waren die ersten, die bluten mussten, aber nun werden auch wir anderen zur Kasse gebeten, denn diese Methoden und das durch sie bewirkte Leid schlagen jetzt auf die Ursprungländer zurück, in Gestalt reaktionärer Wirtschaftsdoktrinen, welche die Gewerkschaften, Bildungssysteme, die Umwelt und alle Einrichtungen zur Unterstützung der Armen, Behinderten und Alten im Namen von Privatisierung, freien Märkten und Steuersenkungen unter Beschuss nehmen.
Bill Clinton, der – es war einmal – seinen eigenen Sexskandal hatte, erklärte im Oktober 2008 anlässlich des Welternährungstages auf der Vollversammlung der Vereinten Nationen, während die Weltwirtschaft dahinschmolz: „Die Weltbank, der IWF, all die großen Stiftungen und die Regierungen müssen zugeben, dass wir alle es 30 Jahre lang vermurkst haben, mich selbst während meiner Zeit als Präsident eingeschlossen. Wir hatten Unrecht, als wir glaubten, Lebensmittel wären ein x-beliebiges Welthandelsgut, und wir müssen alle zu einer verantwortungsvolleren und nachhaltigeren Form der Landwirtschaft zurückfinden.“ Das war eine der bemerkenswertesten Entschuldigungen unserer Zeit. 2010 wurde Clinton sogar noch deutlicher: „Seit 1981 bis ungefähr zum vorigen Jahr, als wir die Sache zu überdenken begannen, haben die Vereinigten Staaten den Kurs verfolgt, wir reichen Länder, die eine Menge Lebensmittel erzeugen, sollten diese den armen Ländern verkaufen und ihnen die Mühe ersparen, ihre Lebensmittel selbst zu erzeugen, damit sie – Gott sei Dank – direkt den Sprung ins Industriezeitalter machen können. Das hat nicht funktioniert. Es war ein Fehler. Es war ein Fehler, den ich mit zu verantworten habe. Ich zeige nicht mit dem Finger auf irgendwen. Ich war es. Ich muss tattäglich damit leben, dass Haiti die Fähigkeit verloren hat, genug Reis zur Ernährung der Menschen dort zu erzeugen, und zwar weil ich so handelte.“
Clintons Eingeständnisse sind mit einer Erkenntnis des früheren US-Notenbankchefs Alan Greenspan vergleichbar, der 2008 zugab, sein Wirtschaftskurs sei von falschen Prämissen ausgegangen. Die früher verfolgte Strategie hat, wie die des IWF, der Weltbank und der Marktfundamentalisten, Armut, Leid, Hunger und Tod verursacht. Wir haben inzwischen dazugelernt, jedenfalls die meisten von uns, und die Welt hat sich tatsächlich erheblich verändert, verglichen mit Zeiten, in denen alle, die sich dem Marktfundamentalismus widersetzten, als „Die-Erde-ist-eine-Scheibe-Prediger“, Gewerkschaftsprotektionisten und Yuppies, die nach ihrem 60er-Jahre-Schuss gieren“ etikettiert wurden, um eine später zurückgenommene Formulierung Thomas Friedmans zu zitieren.
Nach dem verheerenden Erdbeben auf Haiti im vergangenen Jahr geschah etwas Bemerkenswertes: Der IWF plante unter Strauss-Kahn, die Angreifbarkeit des Landes auszunutzen, um Haiti neue Kredite zu den üblichen Konditionen aufzuzwingen. Doch Aktivisten machten gegen den Plan mobil, hätte er doch eine noch tiefere Verschuldung dieses Landes garantiert, das durch die neoliberalen Methoden, für die Clinton sich verspätet entschuldigte, schon schwer beschädigt war. Der Fonds zögerte, gab dann nach und erklärte sich bereit, Haitis bestehende Schulden beim IWF zu streichen. Ein beachtliches Beispiel für die Erfolgsmöglichkeiten aufgeklärter Kampagnen.
Die Macht der Machtlosen
Wie es aussieht, könnte ein „Zimmermädchen“ die Karriere eines der mächtigsten Männer der Welt beenden, oder vielmehr er selbst, indem er die Rechte dieser arbeitenden Frau, ihren Anspruch auf Mitmenschlichkeit, in den Wind schlug. Ziemlich das Gleiche widerfuhr Meg Whitman, der früheren eBay-Milliardärin, die im letzten Jahr für den Gouverneursposten in Kalifornien kandidierte. Sie gedachte, auf dem konservativen Trittbrett mitzufahren und attackierte Einwanderer ohne Aufenthaltserlaubnis – bis sich herausstellte, dass sie jahrelang selbst eine Frau namens Nicky Diaz als Haushälterin beschäftigt hatte. Als es nach neun Jahren politisch unpassend wurde, Frau Diaz im Hause zu haben, warf sie diese ruckzuck auf die Straße, behauptete, nie gewusst zu haben, dass ihre Angestellte keine Papiere besaß, und verweigerte ihr den noch ausstehenden Lohn. Frau Whitman war also, anders gesagt, durchaus gewillt, 140 Mio. US-Dollar auszugeben, warf sich dann aber, unter anderem wegen vorenthaltener Lohnzahlungen in Höhe von 6210 Dollar, selbst aus dem Rennen.
„Ich kam mir vor, als schmisse sie mich weg wie ein Stück Müll“, kommentierte Nicky Diaz. Doch der Müll besaß eine Stimme, die California Nurses Union diente ihr als Verstärker, und so blieb es Kalifornien erspart, von einer Milliardärin beherrscht zu werden, deren Politik die Armen noch brutaler behandelt und die Mittelschichtärmer gemacht hätte.
Die Kämpfe um Gerechtigkeit für eine Haushälterin ohne Papiere und ein eingewandertes „Zimmermädchen“ erweisen sich als Mikrokosmen des großen Weltkriegs unserer Zeit. Dessen Ausgang steht, wie Nicky Diaz und die erwähnte Schlacht um die IWF-Kredite an Haiti zeigen, durchaus noch nicht fest. Wir gewinnen das eine oder andere Scharmützel, aber der Krieg hält an. Vieles von dem, was in jener teuren Hotelsuite in Manhattan wirklich geschah, bleibt noch aufzuklären, doch das eine ist klar: Wir stecken in einem echten Klassenkrieg, der heute ganz offen ausgefochten wird – und an jenem Tag in Manhattan hat ein sogenannter Sozialist sich selbst auf die falsche Seite bugsiert.
Sein Name war Privileg, aber ihrer war Möglichkeit. Seine Geschichte war die alte, immer gleiche, doch ihre war neu: von der Chance handelnd, eine Geschichte zu ändern, die noch nicht zu zu Ende ist. Die uns alle betrifft – und so viele Dinge, die wir in den kommenden Wochen, Monaten, Jahren im Auge behalten, aber auch tun und weitersagen wollen.
Rebecca Solnit lebt als unabhängige Autorin und Publizistin in San Francisco.