Augenzeugenbericht:
Das Vernichtungslager Izbica Lubelska
Gibt es Augenzeugenberichte über die nationalsozialistischen Vernichtungslager? Furchtbares ist bruchstückhaft von polnischen und israelischen Historikern niedergeschrieben worden. Die Öffentlichkeit konnte sich in Filmen über das Grauen in den KZs „informieren“. Die Generation der persönlich Betroffenen (Überlebende des Holocaust) weist heute nur noch eine geringe Zahl Gesprächsbereiter aus. Sie werden weniger.
In ukrainischer Uniform wurde der polnische Staatsbürger Jan Kozielewski, er nahm 1942 den Namen Karski an, von der polnischen Widerstandsbewegung in das Vernichtungslager Izbica Lubelska eingeschleust, um der Welt, den Alliierten, von dem zu berichten, was jüdische Menschen erdulden mussten. Die Antwort Roosevelts war: „Sagen Sie Ihren Leuten, dass wir den Krieg gewinnen werden.“
Der Augenzeugenbericht von Jan Karski überschreitet menschliches Vorstellungsvermögen. Vgl Jan Karski, Mein Bericht an die Welt, Geschichte eines Staates im Untergrund, Verlag Antje Kunstmann, 2011.
„Als wir uns dem Lager bis auf einige Hundert Meter genähert hatten, machten die Rufe, Schreie und Schüsse jedes weitere Gespräch unmöglich. Ich nahm einen widerlichen Gestank wahr – oder glaubte es zumindest -, der von verwesenden Leichen zusammen mit Pferdemist herzurühren schien. …()…Wir gingen durch einen Hain schwächlich aussehender Bäume, und dann tauchte direkt vor uns das schreiende, schluchzende, stinkende Todeslager auf.
Es befand sich auf einem großen, ebenen Areal von reichlich einem Quadratkilometer. Ringsum war es mit Respekt einflößendem Stacheldraht eingezäunt, der fast zweieinhalb Meter hoch und in gutem Zustand war. Innerhalb des Lagers standen etwa alle fünfzehn Meter Wachposten, die jeweils ein Gewehr mit aufgepflanztem Bajonett bei sich hatten. Außerhalb des Zaunes liefen ununterbrochen Milizionäre Patrouille. Das Lager selbst bestand aus einigen wenigen Behelfsunterkünften oder Baracken. Die restliche Fläche war bedeckt mit einer dichten, pulsierenden, geräuschvollen Menschenmasse. Hungernde, stinkende, gestikulierende, wahnsinnige menschliche Wesen in permanenter, erregter Bewegung. Zwischen ihnen liefen deutsche Polizisten und die Wärter herum, wenn nötig, bahnten sie sich mit dem Gewehrkolben den Weg. Sie liefen schweigend, mit gelangweilten Gesichtern umher und sahen aus wie Schäfer, die eine Herde zum Markt treiben, oder wie Schweinehändler inmitten ihrer Tiere. Sie hatten die schlaffe, leicht angewiderte Haltung von Männern, die einer eintönigen, ermüdenden Beschäftigung nachgehen. …()…
Wir kamen an einem alten Juden vorbei, einem ungefähr sechzig Jahre alten Mann, der splitterfasernackt auf dem Boden saß. Ich wusste nicht, ob man ihm seine Kleider heruntergerissen oder er sie selbst in einem Anfall von Wahnsinn weggeworfen hatte. Stumm und reglos hockte er auf dem Boden, und niemand kümmerte sich auch nur im Geringsten um ihn. Kein Muskel, kein Nerv bewegte sich an seinem gesamten Körper. Er hätte tot oder versteinert sein können, wären da nicht seine unnatürlich lebhaften Augen gewesen, die schnell und unaufhörlich blinzelten. Nicht weit von ihm entfernt lag ein in Lumpen gehülltes Kleinkind auf dem Boden. Es war ganz allein, krabbelte zitternd umher und schaute mit den großen, erschrockenen Augen eines Kaninchens nach oben. Auch um das Kind kümmerte sich keiner.
Die jüdische Masse vibrierte, zitterte und bewegte sich auf und a wie in einer gemeinsamen, irrsinnigen, rhythmischen Trance. Sie fuchtelten mit den Händen, schrien, zankten, fluchten und bespuckten einander. Hunger, Durst, Angst und Erschöpfung hatten sie alle in den Wahnsinn getrieben. Man hatte mir gesagt, dass es üblich war, sie im Lager drei oder vier Tage lang ohne einen Tropfen Wasser oder Nahrung zu lassen.
Sie kamen alle aus Gettos. Als sie zusammengetrieben wurden, hatte man ihnen gesagt, dass sie fünf Kilogramm Gepäck mitnehmen durften. Die meisten hatten Nahrungsmittel, Kleidung, Bettzeug und, soweit sie so etwas besaßen, Geld und Schmuck eingepackt. Im Zug hatten die Deutschen, die den Transport begleiteten, ihnen dann alles abgenommen, was auch nur den geringsten Wert hatte – selbst Kleidungsstücke, die ihnen gefielen. Man ließ ihnen nur ein paar Lumpen und ein wenig Nahrung. Wer den Zug ohne etwas zu essen verließ, musste von dem Moment an, in dem er seinen Fuß in das Lager setzte, ununterbrochen hungern.
Es gab keine Organisation oder Ordnung irgendeiner Art. Keiner von ihnen war in der Lage, Hilfe zu leisten oder mit anderen zu teilen. Ganz schnell verloren sie jegliche Selbstbeherrschung und jedwedes Gefühl, es blieb nur der nackte Selbsterhaltungstrieb. Sie befanden sich in einem Stadium völliger Entmenschlichung. Dazu kam noch das typische Herbstwetter, kalt und regnerisch. Die Baracken fassten nicht mehr als zwei- bis dreitausend Personen, und jede „Lieferung“ bestand aus mehr als fünftausend Menschen. Das bedeutete, dass sich jedes Mal zwei- bis dreitausend Männer, Frauen und Kinder draußen verteilten und den Naturgewalten, so wie allem anderen, ungeschützt ausgesetzt waren.
Das Chaos, das Elend, das Grauen all dessen war schlicht unbeschreiblich. Es herrschte ein bestialischer Gestank aus Schweiß, Dreck, Fäulnis, feuchtem Stroh und Exkrementen. …()…
Zwei deutsche Polizisten kamen mit einem großen, massigen SS-Mann ans Tor. Er bellte: …()..“ Ruhe! Ruhe! Alle Juden steigen jetzt in diesen Zug und werden an einen Ort gebracht, wo Arbeit auf sie wartet. Ruhe bewahren und nicht drängeln. Wer versucht, sich zu widersetzen, oder Panik verursacht, wird erschossen.“
Er hielt kurz inne und sah die hilflose Menge, die offenbar nicht begriff, was vor sich ging, herausfordernd an. Plötzlich zog er mit einem lauten, herzhaften Lachen seine Pistole und schoss drei Mal wahllos in die Menge. Ein einziges verwundetes Stöhnen war die Antwort. Er grinste, steckte die Waffe zurück ins Halfter und setzte zu neuem Gebrüll an: „Alle Juden raus, raus!“
Einen Augenblick lang verstummte die Menge. Diejenigen, die dem SS-Mann am nächsten standen, zuckten vor den Schüssen zurück und versuchten panisch, sich nach hinten zu schieben. Doch das wurde von der Menge verhindert, die nach einer Salve hinter ihr abgefeuerter Schüsse wie von Sinnen und unter Angst- und Schmerzensschreien nach vorne drängte. Die Schüsse kamen nun pausenlos von hinten und dann auch von den Seiten, kreisten die Menge ein und trieben sie in einem einzigen brutalen Gedränge zur Rampe. In äußerster Panik, verzweifelt und vor Qual stöhnend, hasteten sie die Rampe entlang und trampelten so, dass die ganze Konstruktion einzustürzen drohte.
Neue Schüsse waren zu hören. Die beiden Polizisten, die am Eingang des Zuges standen, feuerten nunmehr in den ankommenden Pulk, der auf der Rampe eingepfercht war, um diesen zu verlangsamen und zu verhindern, dass die instabile Konstruktion beschädigt wurde. Der SS-Mann verstärkte den ohrenbetäubenden Tumult noch zusätzlich durch Gebrüll.
„Ordnung! Ordnung!, schrie er wie von Sinnen.
„Ordnung!, Ordnung!“, wiederholten die beiden Polizisten mit heiserer Stimme und schossen direkt in die Gesichter der zu dem Zug drängenden Juden. Getrieben und gelenkt von den Schüssen aus allen Seiten füllten sich rasch die beiden Waggons.
Und jetzt kam der furchtbarste Teil des Ganzen. …()…Laut Militärvorschriften dürfen in einem Güterwagen acht Pferde oder vierzig Soldaten transportiert werden. Ohne jegliches Gepäck passen maximal hundert Passagiere eng aneinandergedrückt stehend in einen solchen Waggon. Die Deutschen hatte jedoch kurzerhand Befehle erlassen, wonach hundertzwanzig bis hundertdreißig Juden in einen Waggon sollten. Und diese Befehle wurden durchgesetzt. Ihre Gewehre abwechselnd schwingend und abfeuernd, zwangen die Polizisten immer mehr Menschen in die bereits heillos überfüllten Waggons. Von hinten waren pausenlos Schüsse zu hören, und die so getriebene Menge schob sich vorwärts, wodurch sie einen unaufhaltsamen Druck auf jene ausübte, die sich vorn bei den Wagons befanden. Diese Unglücklichen, wahnsinnig von dem, was sie bereits durchgemacht hatten, gepeinigt von den Polizisten und geschoben von der mahlenden Menge, begannen auf die Köpfe und Schultern derer zu steigen, die sich schon in den Waggons befanden.
Diese waren hilflos, weil sich das Gewicht des gesamten Pulks gegen sie richtete, und sie konnten nur mit verzweifeltem Geheul auf jene reagieren, die versuchten, über sie hinweg zu klettern, die sich an ihren Haaren und Kleidern festhielten, auf ihre Nacken, Gesichter und Schultern traten, Knochen brachen und in besinnungsloser Rage schrien. Nachdem die Waggons bereits über das normale Fassungsvermögen gefüllt waren, drängten sich noch mehrere Dutzend menschliche Wesen, Männer, Frauen und Kinder, auf diese Weise hinein. Dann warfen die Polizisten die Türen zu, ohne Rücksicht auf die noch heraushängenden, hastig zurückgezogenen Gliedmaßen, und schoben die Eisenriegel davor.
Die beiden Waggons waren nunmehr zum Bersten vollgestopft mit dicht gepresstem menschlichem Fleisch, vollständig gefüllt und hermetisch abgeriegelt. Und das alles, während das gesamte Lager widerhallte von unerträglich lautem und grauenvollem Stöhnen und Schreien, grotesk vermischt mit Schüssen, Flüchen und gebellten Befehlen.
Aber das war immer noch nicht alles. Ich weiß, dass viele Menschen mir nicht glauben werden, nicht glauben können und denken, dass ich übertreibe oder fantasiere. Doch ich habe alles selbst gesehen, und es ist weder übertrieben noch erfunden. Ich kann keine Beweise, keine Fotografien vorlegen. Ich kann nur sagen, dass es die Wahrheit ist.
Die Böden der Waggons waren von einer dicken Schicht weißen Pulvers bedeckt. Das war Ätzkalk. Ätzkalk ist ein ungelöschter Kalk beziehungsweise dehydriertes Kalziumoxid. Wer schon einmal gesehen hat, wie Zement gemischt wird, weiß, was passiert, wenn Wasser auf Kalk gegossen wird. Wenn sich das Pulver mit dem Wasser verbindet, brodelt und dampft die Masse, und es entsteht starke Hitze.
Hier nun erfüllte der Kalk im grausamen Kalkül der Nazis einen doppelten Zweck. Das feuchte Fleisch, das mit dem Kalk in Berührung kommt, verliert rasch sein Wasser und verbrennt. Die Menschen in den Waggons wurden binnen Kurzem buchstäblich verbrannt, das Fleisch wurde ihnen von den Knochen gefressen. Auf diese Weise sollten die Juden „qualvoll sterben“, wie es Himmler 1942 in Warschau „gemäß dem Willen des Führers“ versichert hatte. Zweitens sollte der Kalk verhindern, dass sich durch die verwesenden Körper Krankheiten ausbreiteten. Es war ein effektiver, billiger Wirkstoff – wie gemacht für ihre Zwecke.
Drei Stunden dauerte es, um den gesamten Zug mittels mehrfacher Wiederholung dieser Prozedur zu füllen. Es dämmerte bereits, als die sechsundvierzig Waggons (ich habe sie gezählt, tatsächlich war der Zug um die Hälfte länger, als ich zunächst gedacht hatte) beladen waren. Von einem bis zum anderen Ende schien der Zug mit seiner bebenden Fracht aus Fleisch zu pulsieren, zu vibrieren, zu schwanken und zu springen, als wäre er verhext. Ab und zu gab es einen seltsamen kuren Moment der Stille, und dann begann der Zug von Neuem zu stöhnen und zu schluchzen, zu klagen und zu heulen. Im Lager verblieben einige Dutzend Leichen und Körper in den letzten Zuckungen des Todeskampfs. Deutsche Polizisten schlenderten mit rauchenden Gewehren umher und durchlöcherten alles mit Kugeln, was durch ein Stöhnen oder eine Bewegung einen Rest von Lebenskraft verriet. Kurz darauf war niemand mehr am Leben. IN dem nunmehr still gewordenen Lager waren die einzigen Geräusche die entmenschten Schreie, die aus dem anfahrenden Zug widerhallten. Bald verstummten auch sie. Es blieb nur der Gestank von Exkrementen und fauligem Stroh und ein merkwürdiger, ekelerregender, säuerlicher Geruch, der möglicherweise, so dachte ich mir, von dem vielen Blut herrührte, das vergossen wurde und überall Lachen auf dem Boden bildete
Als ich die ersterbenden Schreie aus dem Zug hörte, dachte ich darüber nach, wohin er fuhr. Meine Informanten hatten mir die gesamte Fahrt genauestens beschrieben. Der Zug würde etwa hundertdreißig Kilometer zurücklegen und dann auf einem leeren verlassenen Feld anhalten. Danach würde überhaupt nichts passieren. Der Zug würde so lange still stehen, bis der Tod in alle Ecken seines Inneren vorgedrungen war. Das würde zwei bis vier Tage dauern.
Wenn dann Ätzkalk, Erstickung und Verwundungen den letzten Schrei zum Verstummen gebracht hatten, würde eine Gruppe von Männern hinzukommen – junge, kräftige Juden, die die Aufgabe hatten, diese Waggons auszuräumen – so lange, bis sie selbst an der Reihe waren, in den Zug zu steigen. Unter strenger Bewachung würden sie die Waggons öffnen und die Berge verwesender Leichen daraus entfernen. Die dabei aufgetürmten Fleischberge hatten sie dann zu verbrennen und die Überreste in einer einzigen großen Grube zu verscharren. Das Säubern, Verbrennen und Vergraben würde ein bis zwei volle Tage in Anspruch nehmen. Der gesamte Vernichtungsprozess dauerte also zwischen drei und sechs Tagen. In dieser Zeit kamen die nächsten Opfer in das Lager und die ganze Prozedur begann von Neuem.
Izbica Lubelska ist weniger bekannt als Belzec, hat aber
im Programm zur Vernichtung Tausender Juden, der „Aktion
Reinhardt“, als Nebenlager von Belzec eine große Rolle
gespielt. Die Juden wurden zuerst in Izbica Lubelka gesammelt,
mussten ihre Sachen abgeben und wurden teils vor Ort umgebracht oder,
die große Mehrheit , nach Belzec transportiert, mit der Gewalt
und dem Horror, die Karski beschreibt. (Vgl. Raul Hilberg, Die
Vernichtung der europäischen Juden, Berlin Olle und Wolter,
1982). Insgesamt dürften von Mai 1942 bis April 1943 mehr als
550.000 Menschen (Juden und Zigeuner) in Belzec gestorben sein.