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Vergiftete Stadt


Vor 25 Jahren am 3. Dezember 1984) erschütterte die bis heute weltweit größte Chemie-Katastrophe die indische Stadt Bhopal. Zehntausende Menschen starben in einer gigantischen Gaswolke, eine halbe Million Menschen leidet bis heute – die Schuldigen des US-Konzerns Union Carbide wurden nie zur Verantwortung gezogen. Eine Reise zum Ort des Geschehens.


Zur Katastrophe von Bhopal

Am 3. Dezember 1984 gelangen aus einem Werk des US-Chemiekonzerns Union Carbide im indischen Bhopal tonnenweise giftige Stoffe in die Atmosphäre.

Die Zahl der Opfer kann nur geschätzt werden. Zwischen 12 000 und 25 000 Menschen sind durch den Kontakt mit der Gaswolke gestorben, allein 8 000 Menschen in den ersten 72 Stunden nach der Katastrophe (Quelle: u.a. Bhopal Medical Appeal). Die Zahl der bis heute Verletzten, Kranken sowie geschädigten Nachkommen wird auf eine halbe Million geschätzt.

Hergang: Nachdem Wasser durch eine undichte Stelle in einem Tank für Methylisocyanat eingedrungen war, entstand Kohlenstoffdioxid. Der Tankinnendruck erhöhte sich, die Überdruckventile öffneten sich und zwischen 25 und 40 Tonn en des hochgiftigen Methylisocyanat und andere reaktive Chemikalien wurden freigesetzt.

Verätzungen der Schleimhäute und Schädigungen der Lungen gehören zu den zwingenden Folgen nach dem Kontakt mit Methylisocyanat. Bei den Bhopal-Opfern wurden zudem schwsere Verätzungen innerer Organe festgestellt.

Seit 1977 hatte Union Carbide in Bhopal das Schädlingsbekämpfungsmittel Sevin produziert, seit Beginn der 80er Jahre ging der Verkauf des Mittels zurück. Der Chemie-Gigant senkte die Produktionskosten, indem er Personal entließ und auf eine Reihe von Sicherheitsstandards verzichtete.

Obwohl Union Carbide grob fahrlässiges Verhalten nachgewiesen wurde, musste das Unternehmen nur 470 Millionen Dollar Schadensersatz an den Staat Indien zahlen, der im Gegenzug auf eine Strafverfolgung verzichtete. Viele Opfer haben von dem Geld nie etwas erhalten.


Vergiftet, verleugnet

Von Christine Möllhoff


Jeder Atemzug ist ein Kampf für ihn. Ruckartig hebt sich sein eingefallener Brustkorb, während er die Luft mühsam runter in die Lunge saugt. Im Schneidersitz sitzt Mohammed Sultan auf der schmalen Stahlpritsche, die linke Hand umklammert das Asthma-Spray, er trägt eine schäbige Wollmütze gegen die Winterkühle, die nun in das ungeheizte Krankenhauszimmer zieht.

So sitzt er jeden Tag da, oft viele Stunden, seit 21 Jahren. Im Liegen bekommt der 64-jährige noch weniger Luft. Sein Körper ist ein kraftloses Wrack, aber sein Lächeln ist von einer Wärme und Würde, die einen anrühren.

Früher war er mal ein kräftiger Mann. Als Kuli, als Lastenzieher, brachte der Muslim sich, seine Frau und die drei Kinder durch. Bis zu jener Nacht auf den 3. Dezember 1984 , die sein Leben zerstörte und als größter Chemieunfall in die Weltgeschichte einging.

40 Tonnen tödliches Giftgemisch entwichen damals aus einem Lagertank einer Pestizidfabrik des US-Konzerns Union Carbide, mitten im Armutsviertel von Bhopal. Sultan lebte im Slum Kazi Camp. „Um 1.20 Uhr in der Nacht war auf einmal Panik. Menschen schrien. Meine Lungen brannten wie Feuer, meine Augen schwollen zu. Ich packte meine Kinder und rannte los.“ Dann brach er bewusstlos zusammen.

Er und seine Familie überlebten, aber seine Leber und Lunge sind kaputt. 40 000 Rupien, heute rund 570 Euro, Entschädigung erhielt er – aber erst 1994, zehn Jahre danach. Das Geld sei in acht Monaten weg gewesen. „Für Ärzte und Medizin.“ Heute bekommt er keine Rupie Hilfe mehr. Seit 21 Jahren verbringt er die meiste Zeit im staatlichen Hospital, das Gasopfer kostenlos behandelt. Einmal im Monat besucht er für zwei Tage seine Familie. Das sind die Festtage im Leben von Mohammed Sultan.

4000 bis 8000 Menschen starben damals binnen 72 Stunden, weitere Tausend in den Folgejahren; bis zu 500 000 atmeten das Giftgemisch ein, 100 000 blieben wie Sultan chronisch krank. 25 Jahre ist das her, aber die Tragödie ist nicht vorbei. Bhopal ist voller trauriger Geschichten. Von betrogenen Opfern, von vergiftetem Wasser, behinderten Kindern.


Mita war glücklich, als ihr Sohn zur Welt kam. Dann merkte sie, dass etwas nicht stimmte

Fünf Minuten Autofahrt entfernt, im Chingari Tageshort, treffen wir Mita. Stumm wiegt sie ihren Sohn im Arm. Überglücklich war sie, als Sadesh vor acht Jahren auf die Welt kam. Aber nach anderthalb Monaten merkt Mita, dass etwas mit dem Baby nicht stimmt. Spatische Lähmung diagnostizieren die Ärzte. Sadesh wird nie sprechen, gehen oder alleine essen können.

Es fällt Mita schwer, zu erzählen. Die 26-jährige wirkt fahrig, verwirrt. Was ihr Mann mache, fragen wir. Sie beginnt zu zittern. „Fragt die Krankenschwester“, stößt sie hervor. Der Mann habe sie wegen des behinderten Kindes verlassen, sagt die Schwester. „Sie hat über den Schmerz und der Schande den Verstand verloren.“

Der Chingari Tageshort ist nun ihre letzte Zuflucht. In den vier dunklen Räumen drängen sich Mütter mit behinderten Kindern. So voll ist es, dass einige draußen vor der Tür sitzen. Alle diese Frauen stammen aus den Slums rund um die Todesfabrik. Einige waren wie Mita als Kinder der Giftwolke ausgesetzt.

Andere tranken über Jahre Grundwasser nahe der Fabrik. Im Chingari Hort bekommen die Kinder Physio- und Sprachtherapie und die Mütter Zuspruch. 320 Kinder mit Geburtsfehlern betreut der Chingari Trust. Aber nur 60 bis 70 kann er jeden Tag in den Hort fahren, weil es an Kleinbussen und Platz fehlt. Entschädigung können Frauen und Kinder nicht erwarten.

Im Einzelfall lässt sich kaum beweisen, dass die Geburtsfehler mit dem Gift zu tun haben. Das könnten nur umfangreiche Studien belegen. Aber die letzte große indische Studie wurde 1994 abgebrochen, die Resultate sind nicht bekannt. Manche hegen den Verdacht, dass die Ergebnisse so alarmierend sind, dass man lieber nicht weiterforschte.

BHOPAL, DIE HAUPTSTADT Madhya Pradeshs, ist eine der hübscheren Provinzmetropolen Indiens. Ein großr, im 11. Jahrhundert erbauter Kunstsee trennt die 1,5 Millionenstadt in Arm und Reich. In der wuseligen Altstadt leben die Ärmeren, viele hier sind Muslime.

Dort steht auch die Todesfabrik, mitten in einem Meer von Slumhütten, in denen 100 000 Menschen hausen. Von Anfang an schien es purer Wahnsinn, die Fabrik dort anzusiedeln. Doch weder Unio Carbide, das 50,9 Prozent an der indischen Tochterfirma UCIL hielt, noch die indischen Investoren und der Staat, denen 49,1 Prozent gehörten, schien dies weiter zu kümmern.

AUF DER ANDEREN SEE-SEITE, in Neu-Bhopal ist die Welt in Ordnung. Dort leben die Reichen und Mächtigen. Weit weg von dahinsiechenden Gasopfern wie Mohammed Sultan und verzweifelten Slum-Müttern wie Mita. Hier wohnt auch Babulal Gaur, in einem geräumigen Bungalow am Fuße eines der sieben Hügel Bhopals. Die Novembersonne scheint, in einem Käfig zwitschern Kanarienvögel, und Gaur ist guter Dinge. Gekleidet in eine blütenweiße Kurta, das indische Hängehemd, lädt er zum Interview in den Garten. An seinen Fingern glitzern Diamant- und Perlenringe, die Insignien des Erfolgs. Ein Diener serviert Kekse und Chai, den Milchtee.

Der 80-jährige Gaur ist ein Politikveteran, Mitbegründer der Hindupartei BjP, die Madhya Pradesh derzeit regiert. Für einige Zeit war Gaur selbst Regierungschef des Bundesstaates. Heute ist er Minister für di8e Gasopfer, so jedenfalls sein Titel.


Von missgebildeten Kindern wisse er nichts, beteuert der zuständige Minister

Für Gaur ist die Tragödie Vergangenheit. Die Opfer seien entschädigt worden, sagt er. Auch von missgebildeten Kindern will er nichts wissen. Sicherlich gebe es „Verluste“. „Aber überall in der Welt gibt es Unglücksfälle und Schicksalsschläge im Leben“, wiegelt er ab. Auch die Klagen über verseuchtes Grundwasser wischt er weg. „Die Fabrik ist sicher.“ Man habe 350 Tonnen giftigen Abfall eingesammelt. „Den Rest hat der Monsun in den letzten 25 Jahren weggewaschen“, sagt Gaur. „Da gibt es keinen Giftmüll mehr, auch kein Quecksilber.“ Trotzdem versorge man die umliegenden Slums mit Trinkwasser. Ob das Trinkwasser ausreiche? „Es reicht aus“, sagt er.

WIEDER AUF DER ANDEREN SEITE des Sees. Nisha verkauft wie an jedem Tag in ihrem winzigen Kiosk Süßes und Knabberzeug. Damit verdient sie zehn bis 20 Rupien, also 14 bis 28 Cent, am Tag dazu. Sie, ihr Mann und die fünf Kinder leben im Slum Atal Ayub Nagar, zwischen der Rückseite der Carbide-Fabrik und den Bahngleisen. Nicht unweit ihrer Hütte steht ein städtischer Wassertank. Er ist leer. Wie so oft in den letzten Jahren, sagt sie. Dann trinken sie und ihre Kinder das Grundwasser aus der Handpumpe. „Am nächsten Tag sind wir jedes Mal krank“, sagt die 35-jährige, deren Haar schon grau wird und die kaum noch Zähne im Mund hat.

Am Tor zur alten Carbide-Fabrik vertreiben sich sechs Polizisten die Zeit mit Kartenspielen. Sie sind ohne hin eher Statisten. Die Mauer um die Fabrik ist an vielen Stellen längst eingebrochen. Slum-Kinder spielen auf dem verseuchten Gelände Kricket, Frauen sammeln Brennholz, Vieh grast dort.

Man hätte erwartet, dass die Pestizidanlage nach 25 Jahren demontiert ist. Oder in ein Museum umgewandelt. Doch die Industrieruine rottet seit 25 Jahren einfach vor sich hin. Wie verwunschen wirkt das Gelände, mit seinen verrosteten Anlagen, die der Dschungel nun zuwuchert.

TOTA RAM CHOUAN scharrt mit einem Stock am Boden. „Da, Quecksilber“, schnaubt er und zeigt auf silberne Kügelchen, die in der Abendsonne glitzern. „Diese Fabrik ist ein Dämon“. Der Mittfünfziger mit dem Schnäuzer weiß wovon er spricht. Bis 1982 arbeitete er als Ingenieur in der Fabrik, aber er redet nicht gerne über diese Zeit. Union Carbide sei schuld, sagt er. Die Katastrophe sei absehbar gewesen. Schon vorher habe es mehrere kleine Gasunfälle gegeben. ES schwingt Wut in seiner Stimme mit. Immer wieder zieht er hektisch an seiner Bidi, der indischen Zigarette. ER wirkt wie ein getriebener, einer der besessen ist von der Mission, diese Tragödie endlich zu stoppen. Chemiemüll der allerschlimmsten Sorte lagere weiter auf dem Gelände und vergifte das Grundwasser., sagt er. „Man kann das Gift riechen.“

Aber niemand will für die millionenteure Sanierung zahlen. Nicht der US-Konzern Dow Chemical, der Union Carbide 2001 kaufte, allerdings ohne den Indien-Ableger. Und nicht der indische Staat, der sofort nach der Tragödie die Kontrolle über die indische Carbide-Tochter übernahm und sie 1996 ganz kaufte.

Das Fabrikgelände selbst gehört seit 1998 dem Staat Madhya Pradesh. 2005 verdonnerte ein Gericht die Landesregierung dazu, zumindest eine neue Mauer um das vergiftete Gelände zu bauen. Das ist bis heute nicht geschehen.

Die Gastragödie ist auch eine Geschichte endloser Skandale. Auch eine Geschichte darüber, wie Indien seine Armen behandelt. Zwar übernahm Union Carbide die „moralische Verantwortung“ und zahlte 1989 einmalig 470 Millionen Dollar Entschädigung. Doch das reichte vorne und hinten nicht, im Schnitt erhielten die Opfer gerade mal 500 Dollar. Viel Geld. Viel Geld verschwand in den Taschen der Falschen. Mehr noch. Indiens Bürokratie verzögerte die Auszahlung über Jahrzehnte.

Im Jahr 2004 befahl Indiens Oberstes Gericht dem Staat, eine mit Zinsen auf 320 bis 500 Millionen Dollar gewachsene Restsumme an die Geschädigten auszuzahlen. Ob dies geschehen ist, ist unklar.

Bis heute wurde auch niemand zur Rechenschaft gezogen. Zwar sind Verfahren gegen den damaligen Union Carbide-Chef, den heute 88-jährigen Amerikaner Warren Anderson, und weitere acht Carbide-Führungskräfte anhängig. Ebenso wie gegen fünf indische Ex-Manager von UCIL – darunter heute namhafte Firmenbosse. Aber alle sind auf freiem Fuß, und keiner wird wohl je verurteilt werden. Indien, die aufstrebende Wirtschaftsmacht, möchte lieber in die Zukunft blicken.

RACHNA DHINGRA IST BHOPALS Vorzeigeaktivistin. Früher oder später landet jeder Journalist bei Rachna oder ihrem Ehemann Sathyu Sarangi und ihrer Sambhavna Klinik. Weder Sarangi noch Dhingra stammen aus Bhopal. Noch waren sie Opfer des Gases.

Studiert hat Dhingra in den USA und war danach zwei Jahre als Firmenberaterin tätig – auch für Dow Chemical. Glatt, fast geschäftsmäßig spult die 32-Jähringe die Zitate ab, die man für eine knackige Story braucht, wettert gegen ihren früheren Arbeitgeber und gegen die indische Regierung, die Dow Chemical von der Angel lassen wolle. Die Aktivisten kämpfen gegen das Vergessen an und fordern, dass Dow Chemical das vergiftete Gelände saniert. Aber natürlich geht es auch um Geld. Das seit einigen Monaten verheiratete Paar Rachna und Sathyu führt gleich mehrere Protest- und Hilfsinitiativen. Und wahrscheinlich nimmt keiner so viel westliches Spendengeld ein , wie ihre Organisationen.


In der Klinik, die mit Spenden für die Opfer finanziert wird, sind keine Opfer zu sehen

Ihr Vorzeigeprojekt ist die Sambhavna Klinik, die – so heißt es – die Opfer des Gases und des verseuchten Grundwassers kostenlos mit einer Mischung aus Ayurveda, Yoga und westlicher Medizin behandele. Das für indische Verhältnisse schicke Gebäude, gelegen in einem vom Gas betroffenen, mittelständischen Wohngebiet, beherbergt auch die Büros der Aktivisten. Stationäre Patienten nimmt die Klinik nicht auf.

Es ist Mittag, etwa 30 Patienten warten in der Halle. Eine 26-jährige klagt über Regelschmerzen. Ein Elternpaar ist mit seinem Baby da, es hat Fieber und Husten. Eine Mittvierzigerin sagt, sie leide an Bluthochdruck, geschwollenen Füßen und der Neigung, zuzunehmen.

Gasopfer stellt man sich irgendwie anders vor. Die Patienten dieses Mittags zählen zwar nicht zu den Reichen, aber von der Kleidung her auch nicht zu den Ärmsten der Armen – wie der schwerkranke Mohammad Sultan, der sich seit Jahren nicht mal ein neues Hemd und eine neue Hose leisten kann.

Unversehens wünscht man sich, dass der Chingari Hort für die behinderten Kinder und ihre Mütter ein solch schönes Gebäude hätte. Mit einem Springbrunnen, der vor sich hin plätschert, und mit lichten Räumen und viel Platz.

Doch das Geschäft mit Spenden folgt eigenen Regeln. Die redegewandte Rachna und ihr Mann können sich und ihre Sache gut im Westen verkaufen. 2004 erhielten sie den renommierten Goldman-Umweltpreis. Da verwundert es schon, wie schwer sie sich im Gespräch mit der englischen Sprache tun. Zum Abschied dann sagt Rachna, die frühere Dow- Chemical-Beraterin ujd heutige Profi-Aktivistin, klar und deutlich: „Mailen Sie mir Ihren Artikel zu.“ Es klingt fast wie ein Befehl.


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