Käse aus Kenia
Die ärmsten Länder haben nur dann eine Chance, wenn sie ihre Landwirtschaft schützen wie die EU und USA
von
Jaques Berthelot
Wie
soll die Ernährung von über 9 Milliarden Menschen im Jahr
2050 gesichert werden? Besonders hart wird es für die ärmsten
Länder mit ihrem beschleunigten Bevölkerungswachstum, denn
hier lebt die große Mehrheit der chronisch Unterernährten.
Als im Frühjahr 2008 die Getreidepreise einen neuen Höchststand
erreichten, brachen in zahlreichen armen Ländern Hungerrevolten
aus.
In diesen Ländern fehlen nicht nur die Mittel für die Bewirtschaftung; die westlichen Industrieländer haben sich auch noch die fruchtbarsten Böden unter den Nagel gerissen, auf denen dann Mais und Soja für die Herstellung von Biodiesel wachsen. Die Länder Asiens und der Golfregion wiederum nutzen die Äcker des armen Südens für ihre eigene Ernährungssicherheit, indem sie etwa Vorräte für den Fall anlegen, dass Getreidepreise wieder steigen. Auch der Klimawandel trifft die ärmsten Länder am härtesten: Die Welternährungsorganisation (FAO) schätzt, dass die Ernten in Subsahara-Afrika langfristig um 15 bis 30 Prozent geringer ausfallen werden.
Der Boom, der 2007 und 2008 auf den Agrarmärkten herrschte, hat diese deutlich volatiler gemacht. Die Behauptung von der „Selbstregulierung der Märkte“ ist damit wiederlegt: Der kurzfristige Bedarf ist zwar berechenbar, doch es kann immer zu klimabedingten Produktionsausfällen kommen. Deshalb schwanken die Preise landwirtschaftlicher Produkte und die entsprechenden Einkommen beträchtlich, und die Staaten müssen – wie schon im alten Ägypten – eine dezidierte Import- und Vorratspolitik betreiben.
Obgleich diese Zusammenhänge bekannt sind, forderten Weltbank und IWF in den 1980er-Jahren von den verschuldeten Entwicklungsländern, ihre Agrarmärkte für den Freihandel zu öffnen. 1994 drängten die großen Lebensmittelkonzerne auf den Abschluss des WTO-Agrarabkommens, von dem sie sich sinkende Preise für Agrarrohstoffe versprachen. Dieser Kompromiss sollte erklärtermaßen bewirken, dass die einzelnen Länder langfristig Exportsubventionen und Beihilfen für die einheimische Landwirtschaft abbauen. Damit brach er mit den Prinzipien des GATT-Abkommens von 1947, das zum einen Schutzmaßnahmen gegen Importe nicht untersagte, zum anderen aber auch Exportsubventionen der Erzeugerländer zuließ.
Wie man Dumping leugnet und Subventionen verschleiert
Das Agrarabkommen wurde zunächst zwischen der EU und den USA ausgehandelt, dann aber für alle WTO-Staaten verbindlich. Seine Bestimmungen sind für die Entwicklungsländer zutiefst unfair, was sich insbesondere bei der Definition von Dumping zeigt.
Laut WTO betreibt ein Land Dumping, wenn es Exporteure direkt subventioniert, nicht aber, wenn das Land seine Waren zu Inlandspreisen exportiert – selbst wenn diese Preise dank interner Beihilfen unter den realen Produktionskosten liegen. Seit 1992 wurden so in der EU wie in den USA die Inlandspreise erheblich gedrückt, um die Waren weiter exportieren zu können. Aber das hatte niemals den Vorwurf des Dumpings zur Folge.
Im WTO-Abkommen wurden die Subventionen in Kategorien beziehungsweise „Boxen“ unterteilt: In der „grünen Box“ stecken die erlaubten Beihilfen, für die keine Obergrenze festgelegt ist (etwa staatliche Forschungsprogramme); in der „orangen Box“ wettbewerbsverzerrende Subventionen, die vermieden oder abgebaut werden sollen (wie staatliches Aufkaufen zu Garantiepreisen); in der „blauen Box“ geduldete Beihilfen (wie Stillegungsprämien). Aber diese Kategorien verschleiern nur die Realität. Und dieser Betrug wurde weder durch die sukzessiven Reformen im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) der E entscheidend korrigiert noch durch die seit 1990 verabschiedeten „Farm Bills“ in den USA.
Bei der Doha-Runde von 2001 versprachen die USA und die EU zwar, handelsverzerrende Beihilfen um 80 respektive 70 Prozent gegenüber dem Niveau von 1995 bis 2000 zu reduzieren, aber nur unter der Bedingung, dass die Entwicklungsländer ihre Märkte für Dienstleistungen und nichtagrarische Produkte öffnen würden. Aber seitdem tricksen sie mit den Zahlen über „verzerrende“ Beihilfen in großem Maßstab herum: Washington gab für 2007 eine Subventionssumme von 8,5 Milliarden Dollar an, in Wirklichkeit lag sie aber bei 28,2 Milliarden Dollar; Brüssel meldete für 2005 und 2006 Subventionen in Höhe von 43,1 Milliarden Euro, während sich diese auf 72,9 Milliarden Euro beliefen. Die Behauptung, die Subventionen seien zurückgefahren worden, ist also glatter Schwindel.
Als Verbündete der beiden großen Exportmächte fungieren das WTO-Sekretariat und der Vorsitzende des WTO-Komitees für die Agrarverhandlungen. Das WTO-Streitschlichtungsorgan ist ebenfalls mit dem Thema Subventionen und Dumping befasst. Am 3. Dezember 2001 befand es im Schlichtungsverfahren zum kanadischen Milchmarktmodell, dass die Aufspaltung in einen hochpreisigen Binnenmarkt und einen niedrigpreisigen Exportmarkt eine WTO-widrige Quersubventionierung der Exporte darstellt. In ähnliche Richtung ging die Entscheidung im Streit um die Baumwollsubventionen der USA vom 3. März 2005, nach der Direkthilfen an die Erzeuger keine erlaubten „green box“-Maßnahmen darstellen. Aber solche Einzelfallentscheidungen bewirken keinen wirklichen Wandel.
Nach dem jüngsten Report der Welternährungsorganisation FAO vom 16. Oktober sind heute weltweit mehr als eine Milliarde Menschen chronisch unterernährt und zwei Milliarden Menschen leiden unter Eiweiß- und Mineralstoffmangel. Laut FAO muss die Nahrungsmittelproduktion bis zum Jahr 2050 um 70 Prozent gesteigert werden. Um dieses Ziel zu erreichen, hat der Welternährungsgipfel von 1996 zwei Maßnahmen beschlossen: Erstens sollen die Länder des Nordens Finanzhilfe für die Landwirtschaft des Südens zahlen, die zunächst auf 25 Milliarden Dollar, dann auf 44 Milliarden beziffert wurden. Tatsächlich sind bis heute erst 7,9 Milliarden Dollar geflossen. Die zweite Maßnahme ist die Liberalisierung des Handels, der allerdings für die Entwicklungsländer ein großes Minus bei den Staatseinnahmen und den Ruin vieler Kleinbauern bedeutet.
Tatsächlich können sich die ärmsten Länder, etwa im subsaharischen Afrika, nur entwickeln, wenn sie ihre Landwirtschaft in ähnlicher Weise schützen können wie die EU und die USA. Die reichen Länder importieren in der Regel keine Grundnahrungsmittel. Obwohl ihre Importzölle auf Agrarprodukte im Durchschnitt niedriger liegen als in den Entwicklungsländern, wirken sie gegenüber Grundnahrungsmitteln äußerst selektiv: Die EU zum Beispiel erhebt für Getreide einen Importzoll von 50 Prozent, bei der Westafrikanischen Wirtschafts- und Währungsunion (Uemoa) liegt dieser Zolltarif nur bei 5 Prozent. Ähnlich steht es bei anderen Produkten: Beim Milchpulver ist das Verhältnis 87 zu 5, bei Süßwaren 59 zu 20, bei gefrorenem Rind-, Schweinefleisch und Geflügel 66 zu 20 Prozent.
Im Zeitraum 2001 bis 2004 importierten die USA nur 1,4 Prozent ihres Bedarfs an Getreide, bei der EU waren es 5,9 Prozent, bei den Entwicklungsländern hingegen insgesamt 12,6 Prozent. Für das subsaharische Afrika lag der Importanteil bei 19,3, für Westafrika bei 18,9 Prozent. Die entsprechenden Zahlen für Milchprodukte lauten: 2 Prozent für die USA und 2,7 Prozent für die EU gegenüber 10,3 Prozent für die Entwicklungsländer insgesamt und 39 Prozent für Westafrika.
Am Beispiel Milchpulver lässt sich mit einem Vergleich zwischen Kenia und der Uemoa demonstrieren, welche Wirkungen diese Art von Protektionismus hat: Kenia erhöhte den Einfuhrzoll auf Milchpulver von 25 Prozent (1999) zunächst auf 35 (2002) und dann auf 60 Prozent (2004). In der Westafrikanischen Wirtschafts- und Währungsunion dagegen blieb er unverändert bei 5 Prozent. Kenia hat sich inzwischen zum Nettoexporteur für Milchprodukte entwickelt, der Inlandsverbrauch liegt bei 112 Litern pro Person. Dagegen müssen die westafrikanischen Länder knapp 40 Prozent der Milchprodukte importieren, und der Verbrauch stagniert hier bei 35 Litern pro Person.
Beispiele wie diese belegen die Notwendigkeit einer neuen Agrarpolitik, sowohl auf einzelstaatlicher Ebene als auch im Rahmen des WTO-Agrarabkommens, die sich am Prinzip der Ernährungssouveränität orientieren. Das heißt, dass alle Länder oder Ländergruppen das Recht haben sollen, ihre Ernährungs- und Landwirtschaftspolitik selbst zu gestalten, solange sie keinem anderen Land durch Dumping schaden – also etwa durch indirekte Beihilfen wie Futtermittelsubventionen.
Sehr gefährlich wäre allerdings eine Politik, wie sie die Grünen und die Sozialisten im Europaparlament sowie zahlreiche NGO´s vorschlagen. Demnach brauche die EU ihren Agrarmarkt überhaupt nicht mehr zu schützen, außer gegen Importe aus Ländern, die gegen den Umweltschutz und soziale Mindestnormen verstoßen. Tatsächlich würden die erhöhten Einfuhrzölle der EU auf Grundnahrungsmittel zukzessive abgebaut, wenn ein entsprechendes Abkommen im Rahmen der Doha-Runde ausgehandelt würde. Das gilt erst recht, wenn die U ein Freihandelsabkommen mit dem Gemeinsamen Markt des Südens (Mercosur) beschließt, wie es Spanien vorschwebt (das im ersten Halbjahr 2010 die EU-Ratspräsidentschaft ausübt). Das Überleben der europäischen Landwirte hängt nun einmal davon ab, dass sie sich auf dem europäischen Binnenmarkt behaupten können, auf dem sie im Zeitraum von 2005 bis 2007 rund 77,5 Prozent ihrer Erzeugnisse abgesetzt haben.
Die EU sollte deshalb im eigenen Interesse ihre Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) wie die Weiterentwicklung des WTO-Agrarabkommens am Prinzip der Ernährungssouveränität orientieren, das heißt auch, ihre eigene Dumpingpolitik bei der Produktion von Futtermitteln aufgeben. Die eigenen Agrarexporte wären damit nicht beeinträchtigt, solange die Weltmarktpreise für Agrarprodukte über den Preisen nichtsubventionierter Inlandsprodukte liegen. Für Letztere könnte man im konkreten Fall einen gewinnbringenden Preis festlegen, der durch variable Importabgaben für ausländische Produkte abgesichert wird. Damit könnten diejenigen Bauern, die nah am europäischen Durchschnittspreis produzieren, ohne direkte Subventionen auskommen.
Subventionen dürften nur an die Bauern fließen, die entweder zu höheren Kosten produzieren oder aus sozialen respektive ökologischen Gründen zu unterstützen wären (nach dem Grundsatz der Multifunktionalität). (Konzept, das Ende der 1990er-Jahre aufkam. Danach soll Landwirtschaft als multifunktioneller Sektor eine ökologische und soziale Dimension haben). Dabei sollten die Subventionen prinzipiell gedeckelt sein und je nach Mitgliedsland variieren.
Was die Mengen betrifft, so könnte man Obergrenzen für einzelne Produkte festlegen. Die wären so auf die EU-Mitgliedsländer aufzuteilen, dass eine sinnvolle Balance entsteht zwischen den Bedürfnissen der einzelnen Länder und der Notwendigkeit, eine vielseitige Landwirtschaft zu fördern und zugleich die Transportkosten zu minimieren. Das wäre das genaue Gegenteil der heutigen absurden Deregulierungspolitik der EU-Kommission.
Noch vordringlicher ist die Notwendigkeit einer Reform der Agrarpolitik für Entwicklungsländer. Denn die sehen ein wachsendes Nahrungsmitteldefizit auf sich zukommen, das sich 2007 bereits auf 13,3 Milliarden Dollar belief (das Grundnahrungsmittel Fisch nicht einberechnet).
Wen die EU und die USA in der Doha-Runde von den Entwicklungsländern – als Gegenleistung für den Abbau ihrer eigenen Schutzzölle und Subventionen – eine Öffnung ihrer Märkte für nichtlandwirtschaftliche Produkte und Dienstleistungen fordern, können diese mit einem Gegenzug kontern: mit einer WTO-Klage gegen die EU und die USA, weil diese das Agrarabkommen regelwidrig auslegen und permanent gegen die Pflicht verstoßen, sämtliche Subventionen zu notifizieren. Wenn demonstriert würde, dass das Angebot von EU und USA, ihre Handelshemmnisse abzubauen, auf Sand gebaut ist, wäre auch die Forderung an die Entwicklungsländer, ihre Nichtagrar- und Dienstleistungsmärkte zu öffnen, hinfällig geworden. Damit würden sich für ein Agrarabkommen, das auf dem Prinzip der Ernährungssouveränität aufbaut, ganz neue Perspektiven ergeben.
Jaques Berthelot ist Wirtschaftswissenschaftler und Mitglied des wissenschaftlichen Beirats von Attac.