zurück zur Hauptseite


Im Süden viel Neues: Alternativen für Amerika

Noam Chomsky


In diesem Monat (Dez.06 d.Red.) kündete das zeitliche Zusammentreffen einer Geburt und eines Topdesfalls von einem Wandel für Südamerika, ja für die ganze Welt. Der frühere chilenische Diktator Augusto Pinochet starb, just als führende Vertreter südamerikanischer Nationen ein zweitägiges Gipfeltreffen beendeten, das auf Einladung des bolivianischen Präsidenten Evo Morales in Cochabamba, Bolivien stattfand. Die Teilnehmer des Treffens verkörperten ebenso wie ihre Agenda die Antithese zu Pinochet und seiner Ära neonazistischer nationaler Sicherheitsstaaten, die vom Herrn und Meister der Hemisphäre unterstützt, zuweilen von ihm selbst geschaffen worden waren. Es war dies eine Ära, in der sich Terror, Folter und eine allgemeine Barbarei ausbreitete wie die Pest, von Argentinien bis nach Mittelamerika.

In der Erklärung von Cochabamba vereinbarten die Präsidenten und Abgesandten von zwölf Ländern, sich eingehend mit der Frage zu beschäftigen, ob sie vielleicht eine Gemeinschaft nach Art der Europäischen Union aufbauen wollen. Mit dieser Erklärung sind die jüngsten Bemühungen um eine südamerikanische Binnenintegration 500 Jahre nach den europäischen Eroberungen wieder ein gutes Stück vorangekommen. Möglich, dass der Subkontinent von Venezuela bis Argentinien der Welt noch beispielhaft vorführen wird, wie man sich von Fremdherrschaft und Terror befreit und eine andere Zukunft aufbaut.

Die USA bedienten sich bei ihrer lang andauernden Herrschaft über die Region vornehmlich zweier Methoden: Gewalt und wirtschaftliche Strangulierung. Ganz allgemein können wir festhalten, dass die internationalen Angelegenheiten mehr als nur eine flüchtige Ähnlichkeit mit der Mafia aufweisen. Der Pate nimmt es krumm, wenn jemand nicht tut, was er soll, und sei es nur ein kleiner Ladenbesitzer. Die Lateinamerikaner wissen das nur zu gut. Frühere Unabhängigkeitsbestrebungen wurden niedergeschlagen. Dass sie scheiterten, war unter anderem auf mangelnde regionale Zusammenarbeit zurückzuführen, denn so konnten die Bedrohungen einzeln beseitigt werden. Für die USA war der Feind immer schon der unabhängige Nationalismus, vor allem wenn er sich zu einem „ansteckenden Beispiel“ zu entwickeln drohte. Diesen Ausdruck wählte Henry Kissinger für den demokratischen Sozialismus in Chile, jenem Land , dass am 11. September 1973 in der bereits beschriebenen Weise von seiner Krankheit kuriert wurde. Unter den Führern in Cochabamba war die chilenische Präsidentin Michelle Bachelet. Sie ist Sozialistin und Ärztin, wie Allende Sozialist und Arzt war. Außerdem ist sie eine Exilantin und frühere politische Gefangene. Ihr Vater, ein General, starb im Gefängnis, nachdem er gefoltert worden war.

Morales und der venezolanische Präsident Hugo Chávez feierten in Cochabamba ein neues Joint Venture: eine gemeinsame Gastrennungsanlage in Bolivien. Kooperation dieser Art verleiht der Region bei der globalen Energieversorgung, wo sie schon jetzt eine Hauptrolle spielt, zusätzliches Gewicht. Venezuela, als einziges lateinamerikanisches Land bereits Mitglied der OPEC, verfügt außerhalb des Nahen und Mittleren Ostens über die größten nachgewiesenen Erdölvorkommen. Dem venezolanischen Präsidenten schwebt ein integriertes Energiesystem namens Petroamerica vor, nach Art, wie China es in Asien zu initiieren versucht. Der neue ecuadorianische Präsident Rafael Correa schlug vor, auf Land- und Wasserwegen eine Handelsverbindung vom brasilianischen Amazonasregenwald bis zur ecuadorianischen Pazifikküste zu schaffen – ein südamerikanisches Gegenstück zum Panamakanal. Zu den vielversprechenden Entwicklungen gehört auch das Aufbrechen des westlichen Medienmonopols durch „Telesur“. Der brasilianische Präsident Lula da Silva rief die Führer der anderen Länder auf, historische Differenzen beizulegen und den Kontinent zu einen, so schwer die Aufgabe auch sei.

Integration ist eine der Voraussetzungen für echte Unabhängigkeit. Die Kolonialherren – Spanien, England, andere europäische Mächte, die USA – trennten die Länder nicht nur voneinander, sondern spalteten sie auch im Innern zwischen einer kleinen, reichen Elite und der Masse der verarmten Bevölkerung. Das Wohlstandsgefälle korreliert recht genau mit den Rasseunterschieden. Typischerweise waren die reichen Eliten weiß, europäisch, verwestlicht; die Armen waren einheimisch, indianisch, schwarz, gemischt. Die größtenteils weißen Eliten der einzelnen Länder in der Region unterhielten kaum Beziehungen zueinander. Sie orientierten sich am Westen, nicht an ihrer eigenen Gesellschaft im Süden.

Die neue Entwicklung in Südamerika zwangen die USA zu einer Neuausrichtung ihrer Politik. Regierungen, die derzeit – wie Brasilien unter Lula – US-amerikanische Unterstützung genießen, wären in der Vergangenheit vermutlich gestürzt worden, so wie der brasilianische Präsident Joao Goulart bei einem von den USA unterstützten Putsch im Jahr 1964. Die wirtschaftlichen Kontrollen waren in den letzten Jahren vornehmlich Sache des Internationalen Währungsfonds (IWF), der praktisch als Abteilung des US-Finanzministeriums fungiert. Argentinien war das Aushängeschild des IWF – bis zum Staatsbankrott im Jahr 2001. Argentinien erholte sich, aber nur weil es die Regeln des IWF verletzte, den Schuldendienst verweigerte und die Schulden schließlich mit venezolanischer Hilfe restlos zurückzahlte. Auch so kann Kooperation aussehen. Brasilien bewegt sich auf seine eigene Art in dieselbe Richtung, um den IWF loszuwerden. Bolivien hat die Lehren des IWF rund 25 Jahre brav befolgt. Zum Schluss lag das Pro-Kopf-Einkommen niedriger als zu Beginn. Jetzt gibt auch Bolivien diesem Lehrmeister den Laufpass, wiederum mit venezolanischer Unterstützung. In Südamerika müssen sich die USA derzeit mit links von der Mitte stehenden Regierungen abfinden. Anstatt sie alle über einen Kamm zu scheren, teilt Washington sie nunmehr in gut und böse ein. Der Brasilianer Lula ist einer von den Guten. Chávez und Morales sind die Bösen

Um die Washingtoner Parteilinie aufrechterhalten zu können, kommt man allerdings nicht umhin, die Fakten zurechtzubiegen. Da wäre zum Beispiel die Tatsache, dass eine der ersten Amtshandlungen Lulas nach seiner Wiederwahl im Oktober (2006) darin bestand, sich in den Flieger nach Caracas zu setzen, um Chávez bei seinem Wahlkampf zu unterstützen. Lula weihte während seines Venezuelaaufenthaltes außerdem feierlich eine Brücke über den Orinoko ein (ein brasilianisches Projekt) und sprach über weitere Gemeinschaftsvorhaben zwischen den beiden Ländern. Bei seinem halbjährlichen Treffen in Brasilien setzte der südamerikanische Handelsblock MERCOSUR in diesem Monat (Dezember 2006) seine Gespräche über die südamerikanische Einheit fort. Das MERCOSUR-Parlament, das, so ist zu hoffen, ebenfalls dabei helfen wird, die Dämonen der Vergangenheit zu vertreiben, wurde bei dieser Zusammenkunft feierlich von Lula eingeweiht. Die Hindernisse, die bei der dualen – zwischenstaatlichen und innerstaatlichen – Integration zu überwinden sein werden, sind zwar groß, aber die Schritte, die in diese Richtung unternommen werden, stimmen optimistisch. Das liegt nicht zuletzt an den dynamischen, von vielen Menschen getragenen Graswurzelorganisationen, die daran arbeiten, Grundlagen für eine authentische Demokratie und den dringend benötigten gesellschaftlichen Wandel zu schaffen.

(29.Dezember 2006)

zurück zur Hauptseite