zurück zur Hauptseite


Haiti


Auf der UNO-Konferenz von Durban im Jahr 2001, einberufen von Kofi Annan und Mary Robinson, verlangte Haiti von Frankreich eine Entschädigungszahlung von 150 Millionen Goldfranken. Die Forderung hat eine Vorgeschichte: Der Sklavenaufstand von 1802 hatte Haiti die Freiheit gebracht. 1804 schlugen die befreiten Sklaven das hochgerüstete Expeditionskorps Napoleons in die Flucht. Es sollte in Haiti die Sklaverei wiederherstellen. 1814 schickte König Ludwig XVIII. den Unterhändler Franco de Medina. Die befreiten Sklaven enthaupteten ihn. Frankreich änderte daraufhin die Strategie: Ein wirtschaftliches, diplomatisches, finanzielles Embargo wurde gegen Haiti verfügt. Die anderen europäischen Großmächte schlossen sich der Blockade an. Um den Totalruin abzuwenden, erklärte sich 1825 der haitianische Präsident Jean-Pierre Boyer bereit, mit König Karl X. einen Vertrag auszuhandeln. Die ehemaligen französischen Sklavenbesitzer wurden von Haiti mit 150 Millionen Goldfranken entschädigt. Diese Riesensumme wurde bis 1883 vollständig ausgezahlt.

Das heutige schreckliche Elend des haitianischen Volkes findet in dieser Zwangskompensation ihre Erklärung.


Port-au-Prince, die Hauptstadt Haitis, ist eine der widersprüchlichsten Metropolen, die ich kenne. Im Viertel Pétionville, ganz oben, auf dem Grat der Cordillera, unter bleiernem Himmel, reihen sich die Luxusvillen der Reichen. Der Berg fällt steil zum Meer hin ab. Am Abhang, in den Schluchten und Rinnen drängen sich fast eine Million Menschen. Ganz unten, am Ufer der schimmernden Karibik, dehnt sich die „Cité Soleil“ („die Sonnenstadt), die größte Kanistersiedlung des Kontinents. Sie beherbergt auf vier Quadratkilometer rund dreihunderttausend Menschen. Dort verbreiten rivalisierende Banden, die um die Herrschaft im Kokainhandel kämpfen, Angst und Schrecken.

Eine offene Abflussrinne durchquert das Viertel, in dem Marie-Ange wohnt, eine rattenverseuchte Kloake, in der Müll und menschliche Exkremente schwappen. Im Halbdunkel der Hütte, auf einer von Kakerlaken wimmelnden Matte, schläft der dreijährige Dieudonné, der jüngste Enkel.

Seit Sonnenaufgang hockt Mare-Ange vor ihrer Blechhütte. Ein vielfach geflicktes rotes, an einer Seite löchriges Kleid bedeckt ihren ausgemergelten Leib. Um ihr schwarzes Haar hat sie ein rotes Tuch geschlungen, an den Füßen trägt sie Gummisandalen. Ihr Blick ist ernst, ihre Bewegungen sind energisch. Sie hat die Haltung einer Königin. Vor ihr auf dem Boden steht eine Plastikschüssel, in der einige Gourde-Scheine (die amtliche haitianische Währung) liegen. Marie-Ange verkauft Schlammkuchen. Mit ein wenig Salz und Gemüseabfällen als Fettlieferant vermischt, bildet der Schlamm eine glatte Masse. An der Sonne getrocknet, wird sie hart. Marie-Ange schneidet sie zum Verkauf in Scheiben. Der Schlamm wird wegen seines Kalziumgehalts geschätzt. ER liegt wie ein Stein im Magen und lindert den Hunger. Selbst unter tragischsten Umständen verlieren die Haitianer nicht den Sinn für Ironie. Diese Schlammscheiben heißen „harte Kekse“ (bisquits durs). Für Hunderttausende von Familien ist der Schlammkuchen die Hauptmalzeit des Tages.

In normalen Zeiten verbrauchen die neun Millionen Haitianer pro Jahr 200 00 Tonnen Mehl und 320 000 Tonnen Reis. Das Mehl wird zu 100 Prozent, der Reis zu 75 Prozent eingeführt. Zwischen Januar 2007 und Januar 2008 ist in Haiti der Preis des Mehls um 83 Prozent, der des Reis um 69 Prozent gestiegen. Sechs Millionen Haitianer leben in extremer Armut. Sie sind gezwungen, Schlamm zu essen.

Ojos que no ven, corazón que no siente“ („Augen, die nichts sehen, ein Herz, das nichts empfindet“) Nur selten in der Geschichte haben die Verantwortlichen der westlichen Welt so viel Blindheit, so viel Gleichgültigkeit, so viel Zynismus bewiesen wie heute. Ihre Realitätsleugnung ist beeindruckend. Und entsprechend wächst der Hass.

Im ersten Quartal 2008 sind in siebenunddreißig Ländern des Südens, von Ägypten bis zu den Philippinen, von Bangladesch bis Haiti, Hungeraufstände ausgebrochen. Der steile Anstieg der Lebensmittelpreise lässt ganz neue soziale Schichten, vor allem in den Städten, verelenden. Die Angehörigen dieser Schichten, die 80 bis 90 Prozent ihres Einkommens für Ernährung ausgeben müssen, verfügen nicht über genügend Mittel, um ihren täglichen Bedarf an Lebensmitteln zu decken. Sie gehören zu den 2,2 Milliarden Menschen der südlichen Hemisphäre, die in „absoluter Armut“ leben, wie es in der dürren Sprachregelung der Weltbank heißt.

Im ersten Quartal 2008 ist auf dem Weltmarkt der Reispreis im Durchschnitt um 59 Prozent und der des Getreides, des Mais und der Hirse um 61 Prozent gestiegen. Diese Preise werden generell FOB (Free on board, „frei an Bord“) und nicht CIF (Cost insurance freight, „Kosten, Versicherung und Fracht bis zum Bestimmungshafen“) ausgewiesen, mit anderen Worten, wir müssen hier noch die Transportkosten hinzurechnen.

Seit Ende 2008 sind die Weltmarktpreise der Grundnahrungsmittel starken Schwankungen unterworfen. Grundnahrungsmittel sind Reis, Mais, Getreide. Sie machen zusammen 70 Prozent des Nahrungsmittelkonsums der Welt aus. Gemäß dem World Food Index der FAO sind die Preise für Grundnahrungsmittel zwischen 2003 und 2009 im Durchschnitt um 50 Prozent gestiegen.

Nach allen Prognosen, vor allem der Vereinten Nationen, werden die Preise in den kommenden Jahren weiter steigen. Daher auch die Angst vor dem Morgen und die Verzweiflung der Bewohner der südlichen Hemisphäre. Man rechnet damit, dass es in den nächsten fünf Jahren zu immer gewalttätigeren, polizeilich immer weniger kontrollierbaren Ausbrüchen kommen wird. Und zu einem raschen Anstieg der Zahl der Hungernden

Wie ist diese Preisexplosion der Agrarrohstoffe auf dem Weltmarkt zu erklären? Dafür sin d drei vom Westen lancierte und einander in ihrer Wirkung verstärkende Strategien verantwortlich. Die erste Strategie geht auf das Konto des Internationalen Währungsfonds (IWF). Um die kumulierte Auslandsschuld der hundertzweiundzwanzig Länder der südlichen Hemisphäre, die sich am 31. Dezember 2008 auf 2,1 Billionen Dollar belief, einzudämmen, verordnete der IWF den ärmsten dieser Länder regelmäßig sogenannte Strukturanpassungsmaßnahmen. Praktisch alle diese Pläne fördern die Exportlandwirtschaft auf Kosten des Nahrungsmittelanbaus. Aus einem einfachen Grund: Nur durch den Export von Baumwolle, Soja, Rohrzucker, Palmöl, Kaffee, Tee, Kakao und so fort können sich die Schuldnerländer Devisen verschaffen. Weder die Zinsen noch die Tilgung der Auslandsschulden können in lokalen Währungen bedient werden. Daher müssen sich diese Länder um jeden Preis Devisen verschaffen. So wacht der IWF unerbittlich über die Interessen der großen Gläubigerbanken und multinationalen westlichen Konzerne.

Aus diesem Grund trägt der IWF in zahlreichen Ländern des Südens zur Vernichtung der dem Nahrungsmittgelanbau dienenden Landwirtschaft bei. Wo Baumwolle und Rohrzucker angebaut werden, wächst weder Reis noch Hirse, noch Maniok. Betrachten wir beispielsweise Mali. 2007 hat das Land 380 000 Tonnen Baumwolle exportiert und den größten Teil seiner Nahrungsmittel eingeführt, vor allem Reis aus Vietnam und Thailand. Senegal importiert jährlich rund 600 000 Tonnen Reis. Ganz Schwarzafrika zusammen importiert jedes Jahr für rund 24 Milliarden Dollar Nahrungsmittel.

Eine wichtige Rolle beim Preisanstieg spielt die Spekulation. Heiner Flassbeck, Chefökonom der Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung (UNCTAD), schätzt den Anteil der Spekulationsgewinne an dem weltweiten Preisanstieg der Grundnahrungsmittel auf 50 bis 60 Prozent.

Robert Zoellnick, der Präsident der Weltbank, lastet den Spekulanten rund 37 Prozent der Preisentwicklung an. Der Commodity Stock Exchange in Chicago ist die weltweit größte Börse für Agrarprodukte. Nach dem Crash der Finanzmärkte im November/Dezember 2007 – als mehr als eine Billion Dollar an Vermögenswerten vernichtet wurden – flüchteten die Hedgefonds und andere hochspekulative Fonds an die Chicagoer Börse. Ihre Aktivitäten gesellten sich zu denen der traditionellen Spekulanten auf diesem Markt. Damit explodierte das jährliche Volumen der weltweit gehandelten „Nahrungsmittelpapiere“ (im Allgemeinen terminierte Lieferkontrakte): Während es 2000 noch 10 Milliarden Dollar umfasste, ereichte es im Mai 2008 175 Milliarden Dollar.

Die Spekulanten strichen schwindelerregende Profite ein. So hat Cargill im ersten Quartal 2007 553 Millionen Dollar Gewinn gemacht. Im gleichen Zeitraum des Jahres 2008 kletterte der Gewinn auf 1,03 Milliarden Dollar, ein Zuwachs von 86 Prozent. Der Grund ist einfach, die Chicagoer Warenbörse funktioniert wie jede andere Börse der Welt: Die Akteure versuchen in möglichst kurzer Zeit möglichst große Gewinne zu erzielen.

Der dritte Grund für die Preisexplosion ist die Umwandlung von hunderten Millionen Tonnen Mais und Getreide (Palmöl etc.) in Bioethanol und Biodiesel. Der weitaus größte Produzent sind die USA. 2008 verbrannten die US-Agrarkonzerne, subventioniert durch Milliarden öffentlicher Gelder, 138 Millionen Tonnen Mais (rund ein Drittel der gesamten Ernte) und hunderte Millionen Tonnen Getreide. Präsident Bush und nach ihm Präsident Obama rechtfertigen die Stratege folgendermaßen: Einerseits bekämpft die Ersetzung von fossiler durch pflanzliche Energie die Luftverschmutzung, andererseits reduziert diese Strategie die Auslandsabhängigkeit der USA vom Erdöl.

Beide Motive sind auf den ersten Blick vertretbar, bei näherer Betrachtung bedeutet die Strategie jedoch ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Um den 50-Liter-Tank eines Mittelklassewagens mit Bioethanol zu füllen, werden 358 Kilogramm Mais verbrannt. Mit 358 Kilogramm lebt ein Kind in Mexiko oder Sambia, wo Mais Grundnahrungsmittel sind, ein Jahr lang. Die westlichen Nahrungsmittelkonzerne erzielen mit Biodiesel und Bioethanol astronomische Gewinne.

Soll das Bettelvolk auf der Südhälfte des Planeten doch krepieren!

Jean Ziegler

zurück zur Hauptseite