Die Ustaschi sind zurück
Auf der Hochebene der Anden und im Tiefland von Santa Cruz hat der Westen eine historische Niederlage erlitten. Die Öl- und Gasgiganten sind in die Knie gezwungen worden. Die Minenbarone, die seit Jahrhunderten über die Cerros herrschten (Berge mit den Gold-, Silber- und anderer Erzvorkommen), sahen ihre Macht schwinden. Auch die Gesellschaften zur Gewinnung von Lithium wurden verstaatlicht. Die Landvermesser der Agrarreform ziehen Tag für Tag neue gesetzliche Grenzen für Haziendas.
Zum ersten Mal seit fünfhundert Jahren ist ein Indianer, ein Mann dieser Reza cobriza, dieses Volk mit der kupferfarbenen Haut, der demokratisch gewählte Präsident eines Südamerikanischen Landes.
Dieses Land besitzt das weltweit drittgrößte Vorkommen an Flüssiggas, einen großen Teil der Ölvorkommen und eine beträchtliche Menge an strategisch wichtigen Erzen, darunter einige der seltensten und kostbarsten des Planeten. Ein Beispiel: das Lithium, ein Element, das in den riesigen „Salares“, den Salzseen Zentralboliviens , vorhanden ist. Es wird für Foto- und Fernsehapparate und für elektrische Batterien gebraucht. Die bekannten Weltreserven werden auf 28 Millionen Tonnen geschätzt, die Hälfte in Bolivien.
Der Westen schlägt zurück. Im Wesentlichen durch seine einheimischen Söldner. Wer sind die? In seinem Tiefland hat Bolivien seit 1945 eine große Zahl Nazis aus Deutschland und Österreich aufgenommen, kroatische Ustaschi, Mitglieder der rumänischen Eisernen Garde und zahlreiche weitere faschistische Verbrecher aus Ungarn, Lettland, der Ukraine. Viele wurden von Interpol gesucht, manchmal jahrzehntelang. Meist vergeblich.
Hier ist ein kurzer geschichtlicher Rückblick unvermeidlich: Am 10. August 1944 fand im Hotel Maison-Rouge in Straßburg ein Treffen von Wirtschaftsführern und hochrangigen SS-Offizieren statt. An dem Tisch saßen die Generaldirektoren von Krupp, Röchling, Volkswagen, Rheinmetall, Messerschmitt und anderen großen Industrieunternehmen. Auch von IG-Farben, die das Gas Zyklon B für die Vernichtungslager lieferte, waren mehrere Direktoren anwesend. Die meisten dieser Industrievertreter unterhielten persönliche Beziehungen zu den Männern in den schwarzen Totenkopfuniformen. Seit Jahren kannten sie sich und arbeiteten zusammen.
Erstes Ziel der Versammlung war der massive Transfer deutschen Kapitals nach Südamerika, damit „nach der Niederlage ein starkes Viertes Reich wiedererstehen“ könne.
Zweites Ziel war die Organisation und Finanzierung der Flucht hoher SS-Leute, Gestapo-Angehöriger und anderer Henkersknechte. Die SS und ihre Komplizen aus der Hochfinanz und Industrie hatten bereits ein bestimmtes Gebiet ins Auge gefasst. Das umfasste die Provinz Misiones im Norden Argentiniens, die beidseitigen Ufer des Rio Paraguay und das Tiefland von Bolivien. Im Zentrum dieses Dreiecks liegt Santa Cruz de la Sierra.
Der Historiker Jorge Camarasa berichtet (in seinem Buch Odessa del Sur, Argentina vomo refugio de Nazis y criminales de guerra, Buenos Aires, 1995), wie deutsche Unterseeboote nachts in der Mündung des Rio de la Plata eintrafen. Diese Schiffe waren mit Kisten voller Gold, Silber und Diamanten beladen und wurden von bewaffneten deutschen Agenten begleitet. Am Ufer des Rio de la Plata wurde die Fracht entladen, bevor sie auf Booten den Rio Paraguay bis Puerto Suarez, dem Flusshafen von Santa Cruz, hinaufbefördert wurden.
Am 12. Dezember 1996 veröffentlichte die amerikanische Regierung ein Dokument, das einundfünfzig Jahre lang geheim geblieben war und das zum ersten Mal präzise Angaben zum Umfang der in das Dreieck transferierten Nazi-Beute machte. Allein im Monat April 1945 waren es ungefähr eine Milliarde Dollar (Geldwert von 1945), die auf diese Weise in die Obhut von bolivianischen (paraguayischen und argentinischen) Versicherungsgesellschaften, Banken, Treuhandgesellschaften, Vermögensverwaltern und Handelshäusern gelangte.
In den bolivianischen Departementen Santa Cruz, Beni und Pando erwarben deutsche Agenten Ende 1944 riesige Domänen, Agrarindustriebetriebe, Viehwirtschaften und Transportgesellschaften.
Das zweite Ziel der Straßburger Konferenz ließ sich ebenfalls nur mit erheblichem Aufwand verwirklichen. Das höchst erfolgreiche Netzwerk zur heimlichen Evakuierung der Massenmörder nach Lateinamerika wurde unter dem Decknamen „Odessa“ (Organisation der ehemaligen SS-Angehörigen) aufgebaut. Dank dieser Organisation gelang es Joseph Mengele, dem Ungeheuer von Auschwitz, sich jahrzehntelang zwischen dem Rio Paraguay und dem Departement Santa Cruz zu verstecken. Eduard Roschmann (der „Schlächter von Riga), Gestapo-Chef Heinrich Müller, und viele andere Nazi-Mörder haben in dem Dreieck viele Jahrzehnte eine friedliche Existenz geführt. Abgesehen von Adolf Eichmann, im Sicherheitshauptamt für die Deportation der Juden verantwortlich, der 1960 in Buenos Aires entführt wurde, und von Klaus Barbie ist keiner dieser Verbrecher verhaftet worden. Auf seiner Flucht ist Eichmann über Santa Cruz gekommen.
Wie viele Nazis haben beim Netzwerk „Odessa“ Hilfe gesucht? Über genaue Angaben verfüge ich nicht. Dafür weiß man, dass die Ustaschi besonders häufig die von der Organisation Odessa eingerichtete Rattenlinie benutzt haben. Kardinal Stepanovic und Pater Daganovic, zwei kroatische Prälaten, die Schlüsselpositionen im Vatikan innehatten, versorgten die Ustaschi mit Vatikan-Pässen.
Gewiss, „Odessa“ hat in Ostbolivien kein Viertes Reich errichtet. Doch bis auf den heutigen Tag ist man dort der Vergangenheit treu geblieben. Berthold Brecht schreibt: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.“
Wie ist diese Straffreiheit für nationalsozialistische und faschistische Verbrecher zu erklären? Im bolivianischen und parguayischen Staatsapparat (sowie dem argentinischen zur Zeit Pérons), haben die ehemaligen SS-Leute, Gestapo-Angehörigen und Ustaschi führende Funktionen innegehabt. Einige der schlimmsten Verbrecher haben auch Karriere im Geheimdienst und in der Polizei Boliviens gemacht.
Betrachten wir zum Beispiel Klaus Barbie, den Chef der Gestapo Lyon, verantwortlich für die Verhaftung von Jean Moulin sowie den Mord an Hunderten französischer Widerstandskämpfer und den jüdischen Kindern von Izieux. Barbie war bolivianischer Polizeichef unter zwei aufeinanderfolgenden Militärdiktaturen: der des Generals René Barrientos und der des Generals Ovando Bravo Candia.
Der „Schlächter von Lyon“ blieb auch in Südamerika der perfekte Nazi-Bürokrat. In Bolivien tragen Polizeichefs militärische Grade. Innenminister Luiz Arce Gomes wollte den nationalen Polizeichef, Klaus Barbie, zum General ernennen. Barbie lehnte ab. Bei der SS hatte er einen Rang inne, der dem eines Majors entsprach. Der nächsthöhere Grad ist jener eines Oberstleutnants. Also akzeptierte Barbie nur die Beförderung zum Oberstleutnant. (Wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Folter und Mord sitzt Luiz Arce Gomez zurzeit eine dreißigjährige Zuchthausstrafe im Kerker von Chonchocoro ab.)
Barbie spielte eine Schlüsselrolle bei der Gefangennahme und Ermordung von Che Guevara. Als Verwalter der Gesellschaft Transmaritima Boliviana hat er ein beträchtliches Vermögen erworben. Seine zu großen Teilen aus Altnazis bestehende Geheimorganisation „Verlobte des Todes“ hat 1980 die Machtergreifung von General Luiz Arce Gomez vorbereitet.
Schließlich wurde Barbie dank der Hartnäckigkeit von Francois Mitterand, Régis Debray und Serge Klarsfeld am 5. Februar 1983 in Santa Cruz verhaftet und nach Frankreich ausgeliefert. Doch Barbies Verbündete und Zöglinge hatten bis zum Amtsantritt von Evo Morales Schlüsselpositionen im Geheimdienst. Und in der Polizei Boliviens inne.
Santa Cruz de la Sierra ist eine prächtige Stadt mit 1,5 Millionen Einwohnern. Sie ist bei weitem die reichste und lebendigste Stadt Boliviens. Die 1561 von dem spanischen Abenteurer Nuflo de Chavez gegründete Stadt hat Mitte des 20. Jahrhunderts ihren Aufschwung erlebt.
Säulengeschmückte Häuser säumen breite, von Königspalmen bestandene Boulevards. In den Gärten entfaltet sich tropische Farbenpracht. Ihre riesigen Swimmingpools sind marmorgefliest. Viele Frauen sind von betörender Schönheit. Das ganze Jahr über ist die Luft feucht und mild. Im Sommer nimmt einem die Hitze den Atem. In der Umgebung der Stadt erstrecken sich moderne, leistungsfähige Haziendas. Jede dieser Viehwirtschaften besitzt mehrere tausend Rinder. Auf den Plantagen ist die Baumwolle nach und nach durch das noch rentablere Soja ersetzt worden. Die wahrscheinlich ertragreichste und modernste Soja-Fabrik ganz Lateinamerikas befindet sich in Santa Cruz und gehört einer Bolivianerin kroatischer Herkunft, Jasminka Marinkovic.
Soja, Reis, Kakaobohnen, Sonnenblumenöl, Zuckerrohrmelasse, Schlachtvieh gelangen auf der Straße nach Puerto Suárez. Riesige Kähne befahren den Rio Paraguay bis zum Rio de la Plata und dessen Mündung ins Meer. In Montevideo besitzen die Großgrundbesitzer aus Santa Cruz einen Freihafen mit Lagerhäusern, Kränen, Flaschenzügen, Kaianlagen. Die Waren werden in die Großstädte an der Ostküste der Vereinigten Staaten oder, über den Südatlantik, nach Europa befördert.
Im Tiefland Boliviens gibt es fruchtbares Land in Hülle und Fülle. Die anbaufähigen Flächen werden von der Weltbank auf acht Millionen Hektar geschätzt. 2007 wurden nur 2,5 Millionen genutzt.
Und wer besitzt diese prachtvollen Haziendas, Viehwirtschaften, Binnenschiffflotten auf dem Rio Paraguay, die chemischen Fabriken? Die Söhne und Töchter, die Enkelsöhne und Enkeltöchter der SS-Leute, der Angehörigen von Gestapo, Ustascha und Eiserner Garde. Das sind im Allgemeinen sehr tatkräftige Männer und Frauen, tüchtig und nicht selten Absolventen renommierter nordamerikanischer Universitäten. Das Netz ihrer Finanz- und Handelsbeziehungen umspannt den ganzen Globus. Doch häufig, sehr häufig, ist ihre Weltanschauung zutiefst diskriminierend. „Affen“ nennen sie die Menschen, denen sie mit ihrem rassistischen Hass begegnen – Indianer, Juden und Schwarze. Auf den 47-Tonnen-Lastwagen, die Tag und Nacht, mit Soja beladen über die Straße nach Puerto Suárez donnern, sind nicht selten Hakenkreuze und andere nazistische Symbole zu sehen.
Innerhalb dieser neuen Oligarchie von Santa Cruz de la Sierra bilden die Ustaschi eine Gruppe für sich. Im Gegensatz zu den anderen Söhnen von flüchtigen Nazi-Verbrechern, haben sie sich häufig an politischen und militärischen Operationen im Nachkriegseuropa beteiligt. Mehrere von Ihnen werden vom UNO-Tribunal für Ex-Jugoslawien in Den Haag wegen Verbrechen gesucht, die sie zwischen 1992 und 2000 auf dem Balkan begangen haben.
Wie ist die Ustascha-Bewegung entstanden?
Als die Wehrmacht 1941 Jugoslavien überfiel, zerstückelte Hitler das Land. In Zagreb setzte er ein Regime nach seinem Bilde ein. Der kroastische Führer trug den Titel Poglavnik. Mit richtigem Namen Ante Pavelic. Schon vor dem Zweiten Weltkrieg hatte Pavelic die Ustascha-Bewegung gegründet, eine rechtsradikale Geheimgesellschaft, die für die Unabhängigkeit Kroatiens kämpfte. Pavelic ließ König Alexander von Jugoslawien ermorden. In seinem Wahn hielt Hitler die Kroaten nämlich nicht für Slawen…, weil sie katholisch und nicht orthodox waren. Er gewährte ihnen einen eigenen Staat, der vom Reich und von Mussolini anerkannt wurde.
Als Kriegsberichterstatter für den Corriere della Sera trug Curzio Malaparte die Hauptmannsuniform des italienischen Heeres. Eines Tages besuchte er Ante Pavelic in seiner ihm als Hauptquartier dienenden Burg in Agram (Zagreb). Der hieß ihn herzlich willkommen und zeigte ihm stolz einen Korb voller Menschenaugen: „Ein Geschenk meiner getreuen Ustaschi: zwanzig Kilo Menschenaugen.“
Für die Ustaschi ist heute Evo Morales der Feind, dessen es sich vor allen anderen zu entledigen gilt. Er beraubt sie ihrer Privilegien, bedroht ihr Vermögen und zwingt sie, die demokratischen Freiheiten zu achten. In diesem Punkt sind sich die Ustaschi und viele Nachkommen der SS-Immigranten und der einheimischen Oligarchie – häufig paraguayischer oder brasilianischer Herkunft – vollkommen einig.
Tatsächlich hat Evo Morales in den drei wichtigsten Departementen des Oriente – Santa Cruz, Beni und Pando – bei den Präsidentschaftswahlen von 2005 nur 33 Prozent der Stimmen erhalten. Während der Französischen Revolution kam es zu einem vergleichbaren Phänomen: Unter dem Einfluss des Klerus und der Aristokratie hatten die armen Bauern der Vendée sich 1793 gegen die Republik erhoben, obwohl diese doch die Leibeigenschaft und Feudalrechte abzuschaffen versprochen hatte.
Auf den Haziendas des Chaco, wo häufig noch Sklavenarbeit herrscht, haben die Sklaven wie ihre Herren gewählt. Gleiches gilt für das Amazonasgebiet mit seinen riesigen Soja, Mais- und Baumwollplantagen. Praktisch alle Zeitungen des Landes – nicht nur die des Oriente – sowie die wichtigsten Fernseh- und Radiostationen gehören den Bankiers von Tarija oder Santa Cruz. Pausenlos führen sie Diffamierungskampagnen gegen die Regierung – nicht selten mit beispielloser Heftigkeit.
Hinzu kommt, dass die oligarchische Opposition und insbesondere die Ustaschi enge Beziehungen zu denjenigen westlichen Öl- und Gasgroßkonzernen unterhalten, die sich mit ihrer Niederlage nicht abgefunden haben. Die Faschisten in Pando, Tarija, Beni und Santa Cruz haben eine „Autonomiefront“ gebildet. Sie fordern die Unabhängigkeit der Tieflanddepartemente. Einige Mitglieder des hohen Klerus unterstützen die Front. Bolivien hat die zweifelhafte Ehre, den ersten Erzbischof des Kontinents zu besitzen, der sich offen zu seiner Mitgliedschaft im Opus Dei bekennt. In Santa Cruz selbst beherrschen die Ustaschi und andere Neonazis drei Schlüsselorganisationen: die Industrie- und Handelskammer, das „Bürgerkomitee“ und die Jugendunion (UJC – Unión Juveil Crucenista).
David Sejas, Präsident der UJC, sagt: „Evo Morales ist im Begriff, Bolivien in einen Rassenkrieg hineinzuziehen, er will ein Hitler-Regime errichten. Wir sind nicht für die fünfhundert Jahre der Unterwerfung der Eingeborenen verantwortlich.“ Wenn ein unltranationalistischer Kroate, der sich als Jünger Ante Pavelics ausgibt, einen demokratische gewählten Präsidenten als „neuen Hitler“ beschimpft, so ist das sicherlich eine ganz neue Spielart politischer Wahnvorstellungen…
Die Sezessionisten verlangen für sich sechs der neun Departemente Boliviens: Santa Cruz, Tarija, Cochabamba, Chuquisaca, Beni und Pando. Diese verfügen über die wichtigsten Öl-, Gas- und agroindustrielle Ressourcen und stellen 40 Prozent der zu einem erheblichen Anteil weißen und gemischten Bevölkerung des Landes.
In allen sezessionistischen Departementen sind rechtsradikale Milizen aktiv. Die bedeutendste unter ihnen ist die Falange Socialista Boliviana. In den dreißiger Jahren gegründet, wurde sie später von einem gewissen Guido Strauss wiederbewaffnet und umorganisiert.
Branko Marinkovic ist der Präsident des „Bürgerkomitees“. Er lehnt die Hoheitsrechte der Regierung von La Paz über das östliche Tiefland ab. Hören wir in selbst: „Die Autonomie ist Realität. Wir werden nicht warten, bis man sie uns gibt.“
Alle diese Milizen sind ganz unverhohlen rassistisch. Sie halten den Indianer für einen „Feind der Zivilisation“. Ein UJC-Flugblatt rief dazu auf, „die Grenze des Abendlands“ in Santa Cruz zu verteidigen.
Jean Ziegler