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Bolivien


Das ärmste Land der Welt? Im Vergleich mit Haiti ist Bolivien ebenso schändlich arm. Das Pro-Kopf-Einkommen von mehr als 70 Prozent seiner Bevölkerung lag bis vor kurzem unter einem Dollar pro Tag. Die Kindersterblichkeit ist extrem hoch: Proteinmangel aber auch Mangel an Grundnahrungsmitteln und Vitalstoffen schaffen geistige und körperliche Krüppel in unvorstellbarer Zahl.


Indianische Renaissance

Im Jahr 1992 schickte sich der Kolonialstaat und seine weiße Regierung an, im Beisein vieler geladener Gäste, vor allem aus Europa, den fünfhundertsten Jahrestag der „Entdeckung Amerikas“ durch Christoph Kolumbus zu feiern. Auf dem Prado in La Paz, vor einer weißen Marmorsäule, auf welchem der „Entdecker“ thront, und in der Kathedrale auf der Plaza Murillo war ein Te Deum geplant in Anwesenheit von Dutzenden Kardinälen, Bischöfen und Erzbischöfen, die aus ganz Lateinamerika und Europa zusammengekommen waren.

Doch am Morgen des 12. Oktobers, als sich ein schöner Tag des Andenfrühlings ankündigte, waren mehrere hunderttausend Aymaras, Quechuas, Moxos und Guaranis, in ihre traditionellen Trachten gekleidet, die Quenas und Bajones voran, die Frauen, die kleinsten Kinder in Tüchern aus Lamawolle auf dem Rücken, gemeinsam auf dem Weg zum Canyon von La Paz.

Die Indianer schmähten Christoph Kolumbus, warfen die Ehrentribüne um und besetzten die Hauptstadt vier Tage lang. Bei Einbruch der Nacht wurden auf allen Plätzen der Stadt Holzfeuer entzündet. Darauf wurden riesige Kessel gesetzt. Die Indianer kochten ihr Quinoa, auch Inkareis oder Andenhirse genannt. (Von den spanischen Konquistadoren wurde der Anbau von Quinoa verboten und sogar unter Todesstrafe gestellt. Die Indianervölker sollten geschwächt werden. Das Nahrungsmittel wurde von den Eroberern als „unchristlich“ eingestuft.) Schwarzer Rauch legte sich über die Stadt.

Entsetzen packte die westliche Seele. Am Morgen des fünften Tages zogen die Indianer den Canyon wieder hinauf, um sich friedlich in ihre Gemeinschaften auf dem Altiplano und in ihre Ortschaften und Dörfer im Tiefland zurückzuziehen.

Die Wege der Geschichte sind rätselhaft. Die indianische Besetzung von La Paz im Oktober 1992, ein Ereignis, das die weißen und kreolischen Bewohner schwer traumatisiert hatte, war anscheinend ein isoliertes Ereignis gewesen. Tatsächlich aber kündigte es den kommenden Sturm an. Dieser Sturm hat einen Namen: der Wasserkrieg.

Der Minenbesitzer Losada, der Spanisch mit nordamerikanischem Akzent spricht, ist der Prototyp des neoliberalen Satrapen, den der Westen auf den Präsidentenstuhl im Palacio Quemado gesetzt hat. Der Dollarmilliardär hatte den größten Teil seines Lebens in Miami verbracht. Gewissenhaft verwirklichte er die Privatisierungspolitik, die ihm seine Herren aufgetragen hatten. Für ihn hatten die Bolivianer eine anschauliche Bezeichnung gefunden: „Vende-patria“, Vaterlandsverkäufer.

Als es keine Bodenschätze mehr zu privatisieren – das heißt, an ausländische Konzerne zu verkaufen – gab, trieb Losada die unter seinem Vorgänger, General Banzer, begonnene Privatisierung des Trinkwassers verstärkt voran. Die westlichen Gesellschaften erhielten die Konzession für die Trinkwasserversorgung der wichtigsten Städte. Auf diese Weise erhielt Aguas del Tunari, Tochter des multinationalen britischen Konzerns International Water Limited, die Konzession für die Stadt Cochabamba zu einem lächerlichen Preis. Das Leitungsnetz und die Aufbereitungsanlagen von El Alto wurden an Aguas des Illmani verkauft, Eigentum der französischen GDF-Suez-Gruppe.

Die neuen Eigentümer nahmen ein paar Reparaturen an den Leitungen vor, dann setzten sie den Trinkwasserpreis massiv in die Höhe. Hundertausende von Familien sahen sich außerstande, ihre Wasserrechnungen zu begleichen. Sie mussten sich aus verschmutzten Bächen und arsenkontaminierten Brunnen versorgen. Die Zahl der Kleinkinder, die an „blutigem Durchfall“ starben, stieg steil an.

Bei den folgenden Zusammenstößen mit der Polizei wurde Dutzende Personen getötet und hunderte verletzt, darunter zahlreiche Frauen und Kinder. Doch die Bolivianer wankten und wichen nicht. Vielmehr griff die Bewegung auf das ganze Land über.

Am 17. Oktober 2003 beschlossen Präsident Sánchez de Losada und seine engsten Komplizen, von zwanzigtausend wütenden Demonstranten im Palacio Quemado eingeschlossen, aus dem Land zu fliehen. Richtung Miami.

Der farblose Vizepräsident Carlos Mesa, seines Zeichens Professor, trat die verfassungsgemäße Nachfolge an. Dem aufständischen Volk machte er eine Reihe feierlicher Versprechen, vor allem die Einberufung einer konstituierenden Versammlung zur Ausarbeitung des Entwurfs einer neuen Verfassung. Darin sollte das Recht der indianischen Gemeinschaften auf ihre Bodenschätze und damit auch auf das Wasser festgeschrieben werden.

Doch der blässliche Professor hielt seine Versprechen nicht. Woraufhin der Volksaufstand von Mai bis Juni 2005 erneut ausbrach und die Armee den Altiplano besetzte. Von seinem Hubschrauber aus leitete der Innenminister persönlich das Maschinengewehrfeuer auf die Demonstrationszüge und die von Bergarbeitern und Bauern errichteten Straßensperren. Die Armee besetzte die wichtigsten Ortschaften und Städte des Altiplano auf Dauer. Die nächtlichen Morde an Indianern – Gewerkschaftern, Bauern, Männern und rauen – nahmen zu. Manchmal löschten die Todesschwadrone ganze Familien aus.

Daraufhin kam es zu Massenerhebungen der Gemeinschaften. Zuerst jagten sie die Militäreinheiten davon, und schließlich alle Vertreter des Staates. Ein beträchtlicher Teil des riesigen Altiplano wurde zum „autonomen Indianergebiet“ ausgerufen.

Der Lügen-Professor dankte ab. Es wurden neue Präsidentschaftswahlen festgesetzt. Doch in der Zwischenzeit hatten sich die Menschen und Bewegungen, die gegen die Privatisierung des Wassers protestiert hatten – vor allem Gewerkschafter der Cocaleros und die Bauerngemeinschaften des Altiplano -, zu einer gemeinsamen Widerstandsfront (MAS) zusammengeschlossen.

In dieser aufständischen Volksbewegung profilierte sich Evo Morales schon bald als einer der wichtigsten Anführer. Durch seinen außergewöhnlichen Mut, sein heftiges Temperament und sein hervorragendes Organisationstalent erwarb er sich die Bewunderung und Sympathie der Aufständischen. Da lag es nahe, dass die Bewegung Evo Morales als ihren Präsidentschaftskandidaten aufstellte. Wahltag war der 18. Dezember 2005. Evo wurde mit 53,7 Prozent der Stimmen im ersten Wahlgang gewählt. Ein Ergebnis, das in dcer gesamten Geschichte des Landes noch kein bolivianischer Präsident erreicht hatte.

Evo Morales´ Biografie sieht derjenigen hunterttausender Indianerkinder ausa den Anden zum Verwechseln ähnlich. Not und Hunger. Hunger und Not.

Evo wurde am 26. Oktober 1959 in einer baufälligen Hütte inmitten der kargen Mais- und Kartoffeläcker von Orenoca in der Provinz Oruro geboren. In den Wintermonaten (Juni bis Oktober) liegt die Hochebene unter eisigen Winden. Im Sommer (November bis Mai) herrscht häufig Dürre. Die Brunnen leeren sich. Die Pflanzen gehen ein. Ohne Regen wird der Boden hart wie Stein. Vier seiner Brüder sterben schon in jungen Jahren an Krankheit und Unterernährung. Mit dem Mut der Verzweiflung versuchen Vater und Mutter, Kleinbauern aymarischer Herkunft, die drei Kinder, die ihnen geblieben sind, am Leben zu erhalten.

Der Vater und Sohn Evo gehen zeitweilig als Zuckerrohrschneider nach Argentinien. Im Jahr 1981 kommt es auf der Hochebene zu einer Katastrophe: „El Nino“, ein Orkan, verwüstet die Äcker, vernichtet 70 Prozent der Agrarproduktion und 50 Prozent der Tiere in der Provinz Oruro. Daraufhin beschließt die Familie in den tropischen Regenwald des Tieflandes abzuwandern In Chapare rodet die Familie und macht ein Stück Land urbar. Am Waldrand baut sie eine Bretterhütte mit einem Dach von Palmwedeln. Sie beginnt Koka zu pflanzen.

An dieser Stelle ein Exkurs.

Der Kokastrauch ist eine außerordentlich rentable Pflanze. Sie verlangt wenig Pflege, wächst praktisch von alleine und lässt sich pro Jahr dreimal ernten. Auf den Märkten von Santa Cruz, Trinidad, La Paz oder Sucre erzielen die Blätter einen guten Preis. Er ist stabil. Der Markt ist garantiert.

Zehntausende von Bergarbeitern im ganzen Land, die unter entsetzlichen hygienischen Verhältnissen und ohne saubere Atemluft 500 Meter unter Tage arbeiten, kauen Kokablätter. Auch die Bauern tun es, um die Unbilden der Witterung, das Elend, die Verzweiflung zu ertragen. Im Mund des Konsumenten werden die Blätter zerkaut und bilden einen Klumpen. Der Saft gelangt langsam in den Magen. Dort veranlasst er eine Kontraktion der Magenmuskeln, die das Hungergefühl vertreibt.

Die bolivianischen Behörden stehen vor einem fast unlösbaren Problem: Wie lässt sich der Kampf gegen das organisierte Verbrechen, das in seinen illegalen Labors die Blätter in Kokain verwandelt, mit dem legitimen Anspruch der Bauern, die Kokablätter anzubauen und an die bolivianischen Abnehmer zu verkaufen, in Einklag bringen?

Seit jeher gilt folgende Regelung: Die Regierung von La Paz schätzt jährlich den Eigenbedarf der bolivianischen Konsumenten an Kokablättern. Aufgrund dieser Daten wird eine bestimmte Anbaufläche freigegeben. 12 000 Hektar in Chapare, 8 000 in den Yungas (für das Jahr 2007). Jede Kokapflanzung, die nicht zu dieser Fläche gehört, wird von der Armee zerstört.

In Chapare bewirtschaftete die Familie von Evo Morales Land, das offizielle als Kokaplantage ausgewiesen war.

Eines Morgens, als die rote Andensonne über dem Canyon aufging und ihre ersten Strahlen in das weiße Präsidentenbüro schickte, fragte ich Evo Morales, ob es ein Schlüsselerlebnis für sein politisches Engagement gebe.

Morales erzählte: Eines Tages hatte er als junger Mann in einem Dorf in Chapare den Streit eines ihm bekannten Kokapflanzers mit bolivianischen Offizieren und Agenten der amerikanischen Drogenbekämpfungsbehörde DEA (Drug Enforcement Administration) miterlebt. Vor den Augen seiner machtlosen Angehörigen und Nachbarn wurde der aymarische Bauer von den Soldaten mit Bajonettstichen gefoltert. Dann bei lebendigem Leibe verbrannt. Nach diesem Mord schrieb sich Evo bei der lokalen Gewerkschaft der Cocaleros ein.

Die DEA warf den „legalen“ Kokapflanzern vor, ihre Ernten heimlich an die illegalen Labors zu verkaufen. Wie Bolivianer aller Parteien und Schichten versichern, hatte die DEA jedoch nur ein Ziel: die Unterdrückung des öffentlichen Protestes gegen das soziale Elend oder, anders gesagt, den Schutz der Privilegierten, der Minenbesitzer und Ölmagnaten aus den Vereinigten Staaten.

1997 beschießt ein DEA-Hubschrauber des Sitz der Gesellschaft zum Schutz der Menschenrechte in Chapare, wo Evo an einer Versammlung teilnimmt. Wie durch ein Wunder überlebt er. Andere Teilnehmer werden getötet, wieder andere schwer verletzt.

Mehrfach verhaftet, von nordamerikanischen Agenten geschlagen und verhört, gibt der junge Gewerkschaftler kein Sterbenswörtchen preis. In Bolivien sehen sich die Indianer einem heftigen Rassismus ausgesetzt. Evo wurde das bewusst durch Beleidigungen, mit denen ihn seine Folterknechte bedachten.

Die mächtigste Gewerkschaftsorganisation der Cocaleros trägt einen poetischen Namen: die Sechs Föderationen des Wendekreises von Cochabamba. Evo wurde Ende der 1990er Jahre zu ihrem Präsidenten gewählt. Als sich 1997 das MAS (Moviment al socialismo, Bewegung für den Sozialismus) konstituierte, wurden die Sechs Föderationen sein Rückgrat.

Jean Ziegler

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