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„Die
israelische Gesellschaft liegt im Koma“
Zum 40. Jahrestag des Sechstagekrieges und der israelischen Besetzung
Der
preisgekrönte israelische Journalist und Buchautor Gideon Levy
(„Schrei, geliebtes Land“, Melzer Verlag 2005) sprach am
7.März d.J. im Studienhaus Beit Josef in Jerusalem über
„Israel und die Besetzung“.“ Gideon Levy war von
1978 bis 1982 Sprecher von Shimon Peres. Seit 1982 schreibt er für
die israelische Tageszeitung „Ha´aretz“. Seit 1986
berichtet er Woche für Woche über das palästinensische
Leben unter der Besetzung.
Als
ich ein kleines Kind war, habe ich mit meinen Eltern und Großeltern
deutsch gesprochen. Aber damals kannte ich das Wort Besetzung noch
nicht. Und niemand hat mir erklärt , was Besetzung ist. Darum
kann ich darüber nicht in Deutsch sprechen. Außerdem habe
ich mein Deutsch auch weitgehend verlernt. Deshalb wechsele ich jetzt
ins Englische.
Ich bin in Israel geboren. Meine Eltern waren
Flüchtlinge, mein Vater stammte aus dem Sudetenland. Er lebte 60
Jahre lang in Israel und fand hier nie seinen Platz. Für mich
war er das erste Beispiel eines Flüchtlings. Ich weiß
nicht, wie sehr das meine Karriere und die Wege, die ich
eingeschlagen haben, beeinflusst hat. Tatsache ist, dass ich in einem
Haus aufwuchs, in dem der Vater der Familie entwurzelt worden war
oder sich selbst entwurzelt hatte, von seinem Ort, seiner Kultur und
Sprache.
Durch all die Jahre habe ich immer gedacht: Da gibt
es Ähnlichkeiten und Unterschiede, zwischen meinem Vater, dem
Flüchtling, und den palästinensischen Flüchtlingen.
Auf der einen Seite musste mein Vater seine Kultur verlassen und
gewöhnte sich hier nie vollständig ein. So blieb er 60
Jahre lang ein Flüchtling. Aber er hatte das Privileg , in einem
freien Land zu leben, in einer Demokratie, in einem Land, das sein
Land sein sollte, das Land seines Volkes. Auf der anderen Seite
konnten die palästinensischen Flüchtlinge in ihrer Kultur,
in ihrem Kulturkreis, in ihrer Umgebung bleiben. Aber ihr Schicksal
ist auf vielerlei Weise viel brutaler und unmenschlicher.
Ich
wurde 1953 in Tel Aviv geboren und hatte eine schwierige israelische
Kindheit. Ich wurde im israelischen Bildungssystem erzogen, das uns
vielerlei Wahrheiten beibrachte, aber auch viele Lügen. Vieles
wurde unter den Teppich gekehrt. Ich spreche über die 50er und
60er Jahre. Uns wurde beigebracht, dass ein Volk ohne Land in ein
Land ohne Volk gekommen war; dass das jüdische Volk seinen Platz
gefunden hatte; dass die Araber, die hier gelebt hatten, freiwillig
oder aufgrund der Entscheidungen ihrer Führer weggelaufen waren.
Ich wurde in dem Glauben erzogen, dass Israel der gerechteste Platz
der Welt und das israelische, das jüdische Volk das auserwählte
ist. Ich wurde erzogen zu glauben, dass das Einzige, was Israel will,
Frieden mit seinen Nachbarn sei, und dass das einzige Hindernis dabei
die grausamen, unmenschlichen Nachbarn seien, vor allem die Araber,
die uns umgeben. Ich wurde auch dahingehend unterrichtet zu glauben,
dass David gegen Goliath stehe und Israel natürlich David sei,
der von 220 Millionen Arabern umzingelt werde, die uns nur zerstören
wollten. Doch David besiegte Goliath noch einmal und gewann einen
Krieg nach dem anderen.
Ich wurde auch erzogen zu glauben,
dass alle Kriege im Nahen Osten, wirklich alle, Israel aufgezwungen
worden waren. Israel, das unschuldige, naive, friedenssuchende Land –
während die Araber nur danach trachteten, uns zu zerstören
und ins Meer zu werfen. Die meisten Israelis meiner Generation wurden
in diesem Geiste erzogen.
Ich wurde 1953 geboren, fünf
Jahre nach der Staatsgründung und acht Jahre nach dem Ende des
Zweiten Weltkriegs. Es war eine sehr junge Gesellschaft, mit vielen
Überlebenden des Holocaust und vielen sozialen Problemen. Und
ich glaube nicht, dass diese 50er und 60er Jahre kein guter Zeitpunkt
waren, sich all diesen Problemen zu stellen, also in den Spiegel zu
schauen und sich das Gesicht wirklich anzuschauen, das da in den
Spiegel blickte. Ich nehme an, wir mussten etwas Neues aufbauen. Es
war keine Zeit für den Luxus moralischer Überlegungen. Der
Staat musste gegründet und aufgebaut werden. Ungerechtigkeit
musste begangen werden – das bin ich bereit zu glauben.
Aber
wir leben jetzt im Jahre 2007. Vor zwei Jahren feierte die
israelische Besetzung ihr 38jähriges Bestehen. Das bedeutet,
dass vor zwei Jahren der Staat Israel zweimal länger mit
Besetzung existierte als ohne. 19 Jahre zwischen 1948 und 1967 und 38
Jahre von 1967 bis 2005. Warum erwähne ich das?
Es gibt
immer noch eine Tendenz in der Welt und unter Israelis, die Besetzung
als etwas Vorübergehendes zu betrachten. Nach dem Motto: In ein,
zwei Jahren wird sie vorbei sein. Aber niemand kann diese Behauptung
länger ernst nehmen. Denn wenn der Staat doppelt so viele Jahre
mit der Besetzung existiert wie ohne, dann wird diese zur Normalität,
und jene Jahre ohne die Besetzung waren die Ausnahme, geschichtlich
gesehen.
Niemand kann außerdem behaupten, dass die
Besetzung vor ihrem Ende stehe. Ich habe mich sehr gefreut, als ich
hörte, dass Sie in den besetzten Gebieten gewesen sind. Sie
haben gesehen, was dort geschieht. Sie haben gesehen, dass dieses
winzig kleine Land bereits zerteilt und auseinandergerissen ist. Wenn
man heutzutage darüber spricht, die Gebiete zurückzugeben,
dann heißt das, eine viertel Million Juden zu evakuieren. Ich
sage nicht, das dies unmöglich ist. Aber Sie müssen
berücksichtigen, dass vor Ort viele Tatsachen geschaffen worden
sind, allen voran die Trennmauer. Heute gibt es eine neue
Wirklichkeit. Leider schenken ihr die meisten Israelis keine
Beachtung. Ich bin sicher, dass Sie in den wenigen Monaten, die Sie
hier leben, mehr gesehen haben von den besetzten Gebieten, als der
Durchschnittsisraeli. Sie waren in Hebron, wo 99 Prozent der Israelis
in Ihrem Alter noch nie gewesen sind. Meine Generation ist dorthin
gefahren, aber die junge Generation fährt dort nicht hin, es sei
denn, man ist Siedler oder ein orthodoxe Jude oder ein Extremist, ein
Rechter. Der Durchschnittsisraeli war nie im Leben dort und hat keine
Ahnung, was sich dort abspielt.
Diese – und hier muss
ich das schärfste Wort verwenden – ethnische Säuberung,
die Sie in Hebron gesehen haben, die leeren Häuser, die leeren
Geschäfte, die 25000 Menschen dort – die meisten Israelis
wissen darüber nichts, haben noch nie davon gehört. Und sie
wollen davon nichts wissen. Denn Israelis ziehen ab einem gewissen
Punkt einen Vorhang vor, einen eisernen Vorhang – zwischen dem,
was im dunklen Hinterhof Israels vor sich geht, und dem, was in
Israel selbst geschieht.
Israel ist, wie Sie wissen, eine
wirkliche, liberale Demokratie , sehr westlich, sehr frei, ziemlich
weltlich. Aber ich behaupte immer, dass man nicht halbdemokratisch
sein kann. Man kann keine Demokratie von einer Gebietsgrenze bis zur
anderen sein du dann sagen: Ich bin eine Demokratie bis dorthin, und
jenseits der Linie existiert eine der brutalsten militärischen
Besetzungen, die es in der heutigen Welt gibt. Man kann auch nicht
behaupten, dass man nur für ein Volk demokratisch ist, das
jüdische nämlich, und die arabischen Bürger
diskriminiert und die Palästinenser nicht wie Menschen
behandelt. Das passt nicht zusammen. So unglücklich der
Vergleich nun einmal ist: Man kann nicht halbschwanger sein. Entweder
man ist es oder nicht. Das Gleich gilt für die Demokratie.
Entweder bist Du demokratisch oder nicht. Zu behaupten, dass Israel
heutzutage die einzige Demokratie im Nahen Osten ist, ist deshalb
sehr problematisch. Dabei bin ich sehr stolz auf die israelische
Demokratie. Schließlich bin ich selbst der beste Beleg dafür.
Ich bin nicht sicher, ob Journalisten, die Meinungen vertreten und
Geschichten erzählen, wie ich es tue, sich in anderen Ländern,
einschließlich westlicher, solch einer Freiheit erfreuen können
wie ich hier in Israel.
Das Projekt, das ich vor über 20
Jahren begonnen habe, besteht darin, die israelische Besetzung zu
dokumentieren – mit all ihrer Brutalität und
Unmenschlichkeit, mit all dem Töten und all der Demütigung,
Dämonisierung und Entmenschlichung der Palästinenser. Es
ist etwas, worüber die meisten Leser nichts lesen wollen und was
die meisten Verleger nicht verlegen möchten. Die Regierung, das
Militär, die Armee sind ganz sicher nicht daran interessiert.
Wer will das schon wissen? Von einem moralischen Standpunkt aus ist
nicht leicht zu verdauen, dass in Deinem Namen als Israeli, der Du
glaubst, Du seist Teil der freien Welt, eine halbe Stunde von Deinem
Zuhause diese schrecklichen Gräueltaten geschehen. Diese
schreckliche Ungerechtigkeit. Und Deine Söhne und Töchter
dienen in der Armee, von der Du glaubst, sie sei die liberalste,
menschlichste Armee der Welt, die Armee des Volkes. Sie trägt
den Namen IDF – israelische Verteidigungsstreitkräfte. Sie
ist da, nur um Israel zu verteidigen. Sie ist selbstverständlich
keine Besatzungsmacht, verfügt über keine Todeseinheiten
und führt keine dreckigen Jobs aus. Wer will wissen, dass all
das nicht so ganz wahr ist, wenn es um die besetzten Gebiete geht?
Die Menschen in Israel wissen das nicht.
Die israelische
Gesellschaft wurde sehr gleichgültig, vor allem seit dem Jahr
2000. Nach dem Scheitern von „Camp David II“, nachdem
Premier Ehud Barak nach Israel zurückkehrte und erfolgreich die
Lüge verbreitete, es gebe keinen palästinensischen Partner,
und nachdem <die Busse in den Straßen von Tel Aviv, Haifa
und Jerusalem explodierten, lösten sich die Israelis ganz und
gar von allem, was mit der Besetzung zu tun hatte. Sie lösten
sich selbst von jeglicher Verantwortung und Sorge, von Interesse und
Neugierde an dem, was in den Gebieten geschieht. Das ist sehr
traurig. Denn die Menschen wissen so wenig, und sie wollen so wenig
wissen, meiner Meinung nach der wichtigste Bestandteil der
israelischen Politik ist. Die Besetzung ist heutzutage das Problem
Nummer Eins nicht nur für die Palästinenser, sondern auch
für die Israelis. Und dieses Problem wird nicht diskutiert, es
ist unter den Teppich gekehrt. Das ist eine sehr schlechte Nachricht
für die Zukunft. Und es gibt noch andere schlechte
Nachrichten.
Bis vor zehn Jahren haben sich Israelis und
Palästinenser immerhin getroffen, wenn auch nicht auf gleicher
Augenhöhe. Die Palästinenser kamen nach Israel, um die
Straßen zu kehren, um als Bauarbeiter Häuser zu bauen, auf
den Feldern zu arbeiten oder in den Restaurants Geschirr zu spülen.
Sie kamen herüber und etwas geschah zwischen den beiden Völkern.
Sie trafen sich und es entstanden soziale Beziehungen und
Freundschaft. Es war normal, oder sagen wir halb normal. In den
letzten zehn Jahren wurden die beiden Völker jedoch vollkommen
getrennt.
Ein junger Durchschnittspalästinenser hat heute
noch nie einen Israeli gesehen, der kein bewaffneter Soldat ist, der
ihn nicht anbellt und mit ihm spricht, als sei er kein Mensch, der
ihn nicht bedroht und demütigt. Und kein junger Israeli hat
jemals einen Palästinenser gesehen, der kein
Selbstmordattentäter oder Terrorist war. Diese Trennung zwischen
den beiden Völkern, und vor allem der jungen Generation auf
beiden Seiten, ist die nächste schlechte Nachricht. Denn beide
Völker tragen nun verdrehte und ausschließlich negative
Bilder des Gegenübers in sich. Nicht alle Israelis sind brutale
Soldaten, aber die Palästinenser kennen sonst niemanden. Und
nicht alle Palästinenser , wie wir wissen, Terroristen,
Selbstmordattentäter, gewalttätige Menschen. Aber diese
Bilder können nun nicht von der ejnen auf die andere Seite
gelangen. Es gibt keinen Treffpunkt.
In der Vergangenheit ging
der Witz so: zwei Israelis, drei Ansichten. Heute haben drei Israelis
eine Meinung. Sie müssen wissen, dass der eigentliche Traum, die
eigentliche Vision jedes Israeli – egal ob Linker oder Rechter
– der ist, keine Palästinenser vor Augen zu sehen. Etwas
wird geschehen, ein Wunder oder eine Katastrophe, und dazu beitragen,
damit diese Menschen aus unseren Augen verschwinden. Deshalb hat
Israel die Trennmauer gebaut, um sich so weit wie möglich zu
trennen. Wenn Sie die Straße 443 von Tel Aviv nach Jerusalem
nehmen, oder wenn Sie in das Wohnviertel von Gilo gehen, dann sehen
Sie diese surrealen Mauern, auf die russische Neueinwanderer Bäume,
Berge und Pflanzen gemalt haben, um die palästinensischen Dörfer
dahinter zu verstecken. Wenige Meter hinter der Mauer liegt ein
palästinensisches Dorf. Aber wer will schon ein
palästinensisches Dorf sehen, und wer will wissen, dass sie dort
sind?
Diese systematische Anstrengung, sich zu trennen, und
dieser versteckte Traum, dass sie, die Palästinenser, eines
Tages nicht mehr hier sind – das ist die tatsächliche
Vision der meisten Israelis. Sie würden es sogar teilweise
zugeben. Aber es ist ohnehin klar, denn niemand in Israel spricht
noch über Frieden. Niemand. Wenn Sie nach dem Wort Frieden in
den israelischen Medien der letzten zehn Jahre suchen und das
Ergebnis mit den zehn Jahren davor vergleichen, dann werden Sie
sehen, dass es ein sehr seltenes Wort geworden ist. Es wird kaum
benutzt. Niemand nimmt es ernst. Sehr wenige Israelis glauben, dass
es Frieden geben kann. Und sehr wenige Israelis wollen Frieden mit
den Palästinensern.
Die systematische Entmenschlichung und Dämonisierung der Palästinenser
Es
gibt jedoch noch einen anderen Faktor: Das ist der systematische
Prozess der Entmenschlichung und Dämonisierung der Palästinenser
durch die Israelis. Ich habe Jahre gebraucht, um das zu verstehen. In
den besetzten gebieten, an den Kontrollpunkten, in den
Flüchtlingslagern habe ich bei den israelischen Soldaten die
Brutalität gesehen. Ich weiß, dass nicht alle Israelis so
brutal sind. Ein teil von ihnen sind Sadisten, Faschisten,
Nationalisten, Rassisten, aber nicht alle, nicht einmal die Mehrheit.
Ein Teil von ihnen ist in einer ganz anderen Umgebung aufgewachsen –
gut gebildet, mit Werten und Moral. Sie nehmen an einer humanitären
Rettungsaktion in der Türkei oder Mexiko teil., und sie werden
einer alten Frau beim Überqueren der Straße helfen, selbst
wenn sie nicht will, sie sind wirklich keine Ungeheuer. Was aber
geschieht mit ihnen, wenn sie zur Armee gehen und die „Grüne
Linie“ zu den besetzten gebieten überqueren, um dort zu
dienen?
Als ich einmal am Kalandia-Kontrollpunkt stand (nicht
dem heutigen, sondern dem früheren), beobachtete ich einen
Soldaten, wie er Menschen dirigierte und sie dabei anbrüllte,
wie Soldaten das gewöhnlich tun. Der Kontrollpunkt sah damals
aus wie ein Müllplatz: Schmutz, Schlamm, Sand, keine einzige
Straße, kein Dach, um die Menschen vor Sonne oder Regen zu
schützen. Die Menschen standen dort stundenlang, keine
Toiletten, keine Wasserleitung. Nichts. Und urplötzlich verstand
ich: Diesen Soldaten wurde beigebracht, dass all die Werte, die sie
in sich tragen, sehr wichtig sind. Aber sie müssen davon nur
Gebrauch machen, wenn es sich um Menschen handelt. Bei den
Palästinensern ist das etwas anderes. Sie sind keine richtigen
Menschen. Sie brauchen kein Dach als Sonnen- oder Regenschutz, sie
brauchen keine Toiletten, sie können einen Kontrollpunkt
überqueren, der wie ein Müllplatz aussieht. Dann begriff
ich – und das ist meine Erklärung – wie diese jungen
Leute sich umstellen können, wenn sie zum Armeedienst gehen und
die Palästinenser behandeln, wie sie es nun mal tun, da man sie
glauben machte, Palästinenser sind keine menschlichen Wesen wie
wir. Einmal schieb ich, dass wir sie wie Tiere behandeln. Dann
erhielt ich einen Brief von einer Tierschutzorganisation, dass selbst
Tiere bessere Behandlung verdienten. Seitdem benutze ich das Wort
Tier nicht mehr.
Was entscheidend ist: Die meisten Israelis
sehen die Palästinenser nicht als gleichwertige menschliche
Wesen. Man sieht wirklich Dinge an Kontrollpunkten, für die man
Zeit braucht, um sie zu glauben. Es gibt natürlich Furcht, es
gibt Gefahren, aber ich akzeptiere nicht, was Israelis gewöhnlich
denken: dass die Soldaten nur aus Furcht so brutal sind und oft auch
so grausam.
Ich erinnere mich, wie einmal eine alte Frau einen
Kontrollpunkt überqueren wollte. Sie sagte mir, sie müsse
zum Krankenhaus gehen. Und sie hatte einige Röntgenbilder dabei.
Da nahm der Soldat die Bilder und untersuchte sie. Ein Soldat von 19
Jahren untersuchte die Bilder, um zu sehen, ob sie wirklich krank war
und das Recht hat, den Kontrollpunkt zu überqueren.
Ich bin
Israeli. Ich muss nicht nur an das Schicksal der alten Frau denken,
die gedemütigt wird, ich muss auch an die Zukunft dieses
Soldaten denken, der im Alter von 19 Jahren denkt, er sei der König
der Welt. Und das ist er. Der über die Schicksale von Menschen
einfach so entscheiden kann: ob der Einzelne durch darf oder
nicht.
Was wird aus einem Mann von 18 oder 19 Jahren werden,
der drei Wochen an einem Knotrollpunkt in einem Dorf bei Kalkilia
zubrachte? Das ist ein Dorf, das jede Nacht zwischen 22 Uhr und 6 Uhr
mit einem Schlüssel zugesperrt wird und niemand kann heraus,
niemand hinein. Es gab einen Autounfall im Dorf, ein Mann wurde
ernsthaft verletzt, und sie brachten ihn in einem Wagen zum
Kontrollpunkt. Auch hier konnte der Soldat willkürlich über
Leben und Tod anderer entscheiden.
Und ich erinnere mich an
eine meiner ersten Geschichten. Es war 1989 , damals gab es noch
keine Mauer und keine massiven Kontrollpunkte, wie wir sie heute
haben. Es war eine Beduinin von Nabi Samuel, nicht weit von hier. Sie
stand kurz vor der Niederkunft. Mitten in der Nacht kommt sie mit
ihrem Mann und ihrer Schwiegermuter an einen Kontrollpunkt. Dort
lässt man sie nicht durch. Sie probieren es an einem anderen
Kontrollpunkt. Wieder darf sie den Übergang nicht passieren. Sie
fahren zu einem dritten Kontrollpunkt, so erzählte sie es mir
später in ihrem zelt, und wieder darf sie nicht auf die andere
Seite. Am Ende entbindet sie mit Hilfe ihrer Schwiegermutter am
Kontrollpunkt. Dann bittet sie den Soldaten, wenigstens das Baby in
ein Krankenhaus bringen zu dürfen. Das Ganze spielt sich
dreieinhalb Kilometer vom Jerusalemer Auguste-Victoria-Krankenhaus
ab. Die Soldaten lassen es nicht zu. So läuft sie in einer
stürmischen und kalten Nacht die dreieinhalb Kilometer zu Fuß.
Als sie im Krankenhaus ankommt, ist das Neugeborene tot. Das war
1989. ich schrieb darüber, und der Artikel hatte einen großen
Skandal in Israel zur Folge. Drei Offiziere wurden verurteilt. Dieser
Vorfall wurde auch in einer Kabinettsitzung diskutiert. Es war ein
Thema.
Wenn ich heute daran zurückdenke, geht mir der
lange Weg durch den Kopf, den die israelische Gesellschaft seit
damals zurückgelegt hat. Bis heute, fast 20 Jahre später,
habe ich mehrfach ähnliche Geschichten veröffentlicht, über
Frauen, die ihre Babys an den Kontrollpunkten verloren. Ich allein
weiß von mindestens fünf solcher Fälle. Doch niemand
hat es gekümmert. Meiner Meinung nach ist das eine schlechte
Nachricht, auch für die israelische Gesellschaft. Ich sage
immer: Wenn Du ein Kind hast, und es schreit, dann solltest Du Dir
keine all zu großen Sorgen machen. Du solltest aber alarmiert
sein, wenn ein Baby apathisch wird, wenn es starrt und nicht
reagiert. Dann solltest Du für gewöhnlich schnellstens die
Intensivstation aufsuchen, denn das ist ein schlechtes Zeichen bei
einem Baby. Ich denke, die israelische Gesellschaft hat aufgehört
zu schreien. Sie ist im Koma, in einem Zustand der Apathie, der
Gleichgültigkeit, der moralischen Gleichgültigkeit.
Ich
bin sehr offen mit Ihnen: ich sehe keinen Ausweg. Israel mangelt es
an jeglicher Führung, die mutige Schritte gehen könnte. Und
leider gibt es in Washington keinen hingebungsvollen amerikanischen
Präsidenten, der der Besetzung ein Ende setzen wird, die die
einzige Besetzung einer Demokratie ist – außer der
amerikanischen Besetzung des Irak. Es wird auch in Zukunft vermutlich
keinen solchen Präsidenten geben. Dabei könnte der
amerikanische Präsident die Besetzung beenden. Europa, Ihr
Europa, ist dagegen nicht einflussreich genug, sie zu beenden, und
hat eigene Schwierigkeiten. Die Israelis können sich nicht
selbst helfen und sich nicht vor dem Schicksal schützen,
Besatzer über so viele Jahre zu sein. Die Welt ist gleichgültig
und wird immer gleichgültiger, sie ist dieser langen
Auseinandersetzung überdrüssig und spricht immer weniger
über Palästinenser und Israelis. Es gab mal einen
amerikanischen Außenminister, nämlich James Baker, der
diesen unvergesslichen Satz geäußert hat: „Lasst sie
bluten.“ Und der größte Teil der Welt denkt heute
so: Wir haben es versucht, hatten aber keinen Erfolg. Es ist
unmöglich, aus dieser Lage herauszukommen. Deshalb lasst sie
bluten. Dieses „Lasst sie bluten“ ist weniger fatal für
Europa und die Vereinigten Staaten (obwohl ich denke, dass es auch
viele Folgen für den Westen hat) als für uns Israelis. Für
uns ist es wirklich eine entsetzliche Nachricht. Denn ich glaube
wirklich, dass, sollte die Besetzung fortbestehen, Israel mehr und
mehr zu einem noch ungerechteren und unmoralischeren Ort wird. Israel
ist ein Ort mit vielen moralischen Problemen. Und die Vergangenheit,
die Deutsche und Europäer lähmt und von Kritik an Israel
abhält, wird immer weiter wegrücken. Israel wird der am
meisten kritisierte und am meisten diskutierte Ort in der Welt
werden, ja, ist es jetzt schon, egal ob es dafür gute Gründe
gibt oder nicht. Letzte Woche sah ich eine Umfrage, die Israel als
das gefährlichste Land in der Welt ermittelte – noch vor
dem Iran, noch vor den Vereinigten Staaten. Ich will hier nicht
diskutieren, ob Israel den ersten oder fünften Platz verdient.
Aber ich glaube nicht, dass Terror aus dem Nichts entsteht. Ich
glaube nicht, dass Palästinenser zum Töten geboren sind.
Niemand ist das. Terror hat Gründe du Wurzeln. Und er hat
Ausreden du Vorwände. Die israelische Besetzung ist heutzutage
ein Hauptvorwand für viele Terrororganisationen und der
Hauptgrund für den palästinensischen Terrorismus.
Ich
interviewte einmal Ehud Barak, den früheren israelischen
Premierminister, als er noch keiner war. Er wurde in Israel als einer
der größten Kämpfer angesehen, die das Land je hatte.
Er war in den besten Truppen und führte die waghalsigsten
Kommandos aus. „Was täten Sie, wären sie, General
Barak, als Palästinenser geboren?“, fragte ich ihn. Er
antwortete mit der ehrlichsten und mutigsten Antwort, die er geben
konnte: „Wäre ich als Palästinenser geboren, würde
ich mich einer Terrororganisation anschließen.“ Das
verursachte einen Skandal in Israel. Ich schätzte seine Antwort.
Denn was sonst hätte er sein können? Ein Kollaborateur mit
Israel? Ein Pianist?
Die Palästinenser haben keine Armee.
Sie verfügen über keine Luftwaffe. Sie haben nicht die
besten Waffen der Welt. Deshalb greifen Sie zu den Waffen der
Schwachen, das heißt: Terror. Es ist unmenschlich. Es ist
grausam. Es tötet unschuldige Zivilisten. Aber gibt wirklich
einen Unterschied zwischen einem Selbstmordattentäter, der sich
in den Straßen von Tel Aviv tötet, und einem Pilot, der
eine Bombe von einer Tone Gewicht auf ein Wohnvierte von Zivilisten
in Gaza abwirft? Wenn es einen Unterschied gibt, was für einer
ist es? Einer moralischer Art? Oder welcher Art? Ich bin sicher, der
Selbstmordattentäter in Tel Aviv würde es vorziehen, in
einer F-16 zu sitzen und nur auf einen Knopf zu drücken. Da bin
ich mir sicher.
Ich rechtfertige auf keinen Fall Terror, aber
ich kann die Motivation verstehen, ich kann diese furchtbare
Situation verstehen, in der Menschen bereit sind, ihr eigenes Leben
zu opfern. Wie hoffnungslos muss es sein, wenn sie bereit sind, ihr
eigenes Leben zu opfern, das Wertvollste, was sie haben? Denn sie
haben nichts zu verlieren. Was opfert heutzutage ein
palästinensischer Jugendlicher von 18, 19, 20 Jahren, wenn er
sagt, er wird Selbstmord begehen? Was? Welche Zukunft hat er? Welche
Gegenwart hat er? Welche Vergangenheit? In einem Flüchtlingslager
aufzuwachsen, in einem Ort eingeschlossen zu sein, gedemütigt zu
werden Tag für Tag an den Kontrollpunkten, ohne Arbeit, ohne
Karriere, nichts, auf das man sich freuen könnte. Was kann man
ihm anbieten, um etwas Sinnvolles zu tun? Sich einer Terrorgruppe
anzuschließen und für etwas zu kämpfen, das in ihren
Augen eine sehr gerechte Sache ist. Und es ist eine gerechte Sache.
Sie verdienen einen Staat. Sie verdienen all das, was jeder Israeli
verdient.
Das,
was ich Ihnen heute erzähle, ist für israelische Ohren
nicht sehr angenehm, um es milde zu sagen. Es ist nicht das, was
Israelis gerne hören würden. Immer wenn ich im fernsehen
oder im Radio erscheine oder meine Artikel schreibe – und all
das tue ich, so oft es mir möglich ist -, versuche ich ,
zweierlei zu tun: Zum einen versuche ich , jeden Israeli dazu zu
bewegen, sich nur für eine Minute in einen Palästinenser
hineinzuversetzen, um zu sehen, was er dann tun würde.
Als
ich vom Flüchtlingslager in Dschenin zurückreiste, kam ich
mit meinem Wagen an einen Kontrollpunkt hinter einem Krankenwagen mit
Blaulicht. Ich wartete 15 Minuten. Eine halbe Stunde. Eine
dreiviertel Stunde. Ich sah die Soldaten in einem Zelt sitzen und
Backgammon spielen. Nach einer dreiviertel Stunde hielt ich es nicht
mehr aus. Ich stieg aus. Dann ging ich zum Fahrer des
palästinensischen Krankenwagens und fragte ihn, was los sei.
„Das ist Routine“, antwortete er. „Sie lassen uns
warten, sie stellen uns für eine Sunde auf die Probe, bis sie
uns kriegen“, sagte er. Ich flippte wirklich aus. Dann ging ich
zu den Soldaten und es entstand ein Streit zwischen uns. Einer
richtete sein Gewehr auf mich. Das ist aber nicht wichtig. Was
wichtig ist, war meine Frage: „Was wäre, wenn Euer Vater
oder Eure Mutter da in diesem Krankenwagen liegen würde? Und was
würde geschehen, wenn Euer Vater oder Eure Mutter in diesem
Krankenwagen sterben würde, weil irgendein Soldat die Fahrt zum
Krankenhaus verhindert? Was hätte Ihr getan? Welche Erinnerungen
würdet Ihr mit Euch tragen?“ Sie hatten keine Ahnung, wer
im Krankenwagen transportiert wurde, da sie sich ihm gar nicht
genähert hatten. Sie hatten keine Ahnung und kein Interesse
daran. Denn es handelte sich um einen Palästinenser.
Deshalb
ist mein erstes Ziel, so viele Israelis wie nur möglich dazu zu
bewegen, sich in die Palästinenser hineinzuversetzen. Das ist
fast unmöglich, da die Entmenschlichung so tief geht, dass die
Israelis sich nicht in einen Palästinenser hineinversetzen
können.
Mein zweites Ziel, so bescheiden es auch ist,
besteht darin, so viele Israelis wie nur möglich daran zu
hindern, eines Tages zu behaupten, dass sie nichts gewusst hätten.
Das ist eine Behauptung, die für viele Israelis vertraut klingt
– wegen der Vergangenheit. Als Behauptung anderer, dass sie
nichts gewusst hätten. Israelis und Juden schöpfen immer
Verdacht, wenn jemand sagt, er habe nichts gewusst. Und mir kommt es
verdächtig vor, wenn Israelis sagen, sie wüssten nichts.
Sie sind heute wirklich sehr abgeschirmt und können das
behaupten. Sie wissen, dass etwas falsch läuft, nur eine halbe
Stunde von ihren Häusern entfernt. Was genau dort geschieht,
wissen sie nicht. Das ist die Hauptaufgabe von uns israelischen
Journalisten, oder wenigstens einem teil von uns: den Luxus zu
verhindern, dass die Israelis behaupten können, sie wüssten
nichts. Ich bin mir sicher, dass wir eines Tages danach gefragt
werden, wenn nicht heute, dann in fünf oder zehn Jahren. Kinder
werden ihre Eltern fragen: „Wo warst Du damals? Was hast Du
getan? Was hast Du gewusst?“ Ich bin mir sicher, dieser
Augenblick wird kommen. Wann immer dieser Moment eintritt – es
wird der einzige Moment sein, da bin ich mir sicher, in dem Israel
aus dieser Krise herauskommt. Dann wird es eine wirkliche Chance für
den Frieden geben. Solange dieser Augenblick nicht kommt, und er ist
noch weit entfern, solange Israelis nichts wissen wollen und ihnen
alles egal ist, ist Israel in großen Schwierigkeiten. Bis
dieser Tag kommt.
Ich habe einmal einen Artikel geschrieben:
„Wir sind alle Kontrollpunkt-Soldaten.“ Die Verantwortung
liegt bei allen Israelis. Bei denen, die schweigen, bei denen de dort
Armeedienst tun, bei denen, die nichts wissen und bei denen, die
nichts wissen wollen.
Auf lange Sicht werden sich die
Palästinenser von der Besetzung viel leichter erholen als wir
Israelis, die Besatzer.
Für Miriam und Ifat