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Geschichtliche Lektionen
Die Politstrategen
der Nachkriegszeit konnten sich bei der Rettung
privatwirtschaftlicher Strukturen durch staatliche Macht auf Kosten
der ökonomisch und politisch Schwachen auf eine solide
historische Praxis stützen. Erfolgreiche Industriegesellschaften
waren erfolgreich, weil sie selbst jene Marktdisziplin, die sie
anderen auferlegten, vermissen ließen.
Das Fundament für
die britischen Auslandsinvestitionen und -verbindungen wurde, wie
John Maynard Keynes einmal bemerkte, von Piraten und Plünderern
der Elisabethanischen Zeit gelegt, die heute möglicherweise als
Terroristen gelten würden. Mitte des 17. Jahrhunderts wurde
Englands Vorherrschaft im Mittelmeer durch militärische
Überlegenheit, Handelsmonopole und staatliche Unterstützung
abgesichert. Das waren die Voraussetzungen für den Aufstieg zur
Handelsmacht ein Jahrhundert später. Eben diese Faktoren schufen
eine solide Basis für die Überlegenheit im Indischen Ozean,
von wo aus dann Südasien in Angriff genommen werden
konnte.
Durch den Einsatz staatlich geförderter Macht konnten
die handelsmäßig weiter entwickelten, aber militärisch
schwächeren Holländer aus dem Nordatlantik vertrieben
werden, was englische Kauffahrtei-Abenteurer zuvor schon mit der
Hanse sowie mit italienischen und flämischen Konkurrenten
gelungen war. Die Eroberung Indiens im 18. Jahrhundert erwies sich
als äußerst profitabel, und das Staatswesen entwickelte
sich, im Gegensatz zu Rivalen auf dem Kontinent, zu bislang
ungekannter Wirksamkeit und Umfänglichkeit.
In den
amerikanischen Kolonien vollzog sich eine ganz ähnliche
Entwicklung, die von der Piraterie der Kolonialzeit zu massiven
staatlichen Eingriffen in die Wirtschaft nach der Unabhängigkeit
führte, um die lokale Produktion, insbesondere vor billigen
britischen Importen, zu schützen. So gelang es, > die Würfel
zugunsten der Unternehmer rollen zu lassen und zugleich ihre
Unternehmungen und Gewinne vor demokratischer Einmischung zu
bewahren<, bemerke der Historiker Charles Sellers.
Das
Baumwollkönigreich im Süden, das schon Großbritanniens
industrielle Entwicklung gefördert hatte, war sicher kein
Beitrag zu den Wundern des freien Markts. Es beruhte auf Sklaverei
und der massenhaften Vertreibung und Ermordung der
Urbevölkerung. Die Annexion von Texas sollte das Baumwollmonopol
erzwingen - damals war Baumwolle das, was heute Erdöl
ist.
Großbritannien pflegte zum Wirtschaftsliberalismus
ebenfalls ein taktisches Verhältnis, d.h., es befürwortete
ihn, wenn es stark genug war, verwarf die reine Lehre aber sofort,
wenn es sich Vorteile verschaffen wollte, wie etwa in den zwanziger
Jahren des 20. Jahrhunderts gegen Japan. Das von London 1932 im
Fernen Osten eingerichtete Präferenzsystem trug nicht
unwesentlich zur Entstehung des Pazifikkrieges bei. Kolonialisierte
Länder wurden gewaltsam >deindustrialisiert<, mit den
Folgen, die sich an Irland und Indien besonders gut ablesen lassen..
So wurde zunächst Bengalen >destabilisiert und in Armut
gestürzt<, schreibt John Keay in seiner Geschichte der
Ostindischen Handelskompanie. 1757 beschrieb der Eroberer, Robert
Clive, die Textilstadt Dacca als >so ausgedehnt, bevölkert
und reich wie London<. Schon 1840 war die Einwohnerzahl von
150.000 auf 30.000 gefallen, wie Sir Charles Trevelyan vor dem
Oberhaus bezeugte. Dacca, das >Manchester Indiens< verkam und
verarmte und ist bis heute die Hauptstadt von Bangla Desh.
Zur
Zeit der Eroberung durch die Briten war Indien in seiner
industriellen Entwicklung so weit fortgeschritten wie England. Aber
die indische Industrie wurde durch britische Regelungen und
Einmischungen zerstört. Ohne diese Maßnahmen, schrieb
Horace Wilson in seiner History of British India , hätten
>Mühlen von Paisley und Manchester gar nicht erst ihr
Werk beginnen können, noch nicht einmal nach der Erfindung der
Dampfkraft. Sie verdankt ihre Existenz der Vernichtung der indischen
Baumwollfabrikanten<.
Zeitgenossen beschreiben diesen
Prozeß der >Unterdrückung und Monopolisierung<, mit
dem die Eroberer den Reichtum Bengalens ruinierten, das Land mit
Leichen übersäten und >reiche Felder, die Reis oder
andere Frucht trugen, umpflügten...um Mohn auszusäen<,
wenn das Opium außergewöhnliche Gewinne abzuwerfen
versprach (Adam Smith).
Die >dauerhafte Besiedelung<
(Permanent Settlement) von 1793 dehnte das Experiment von Bengalen
auf ganz Indien aus. Die Privatisierung von Ländereien
verschaffte den britischen Verwaltern und lokalen Statthaltern große
Reichtümer, während >fast die gesamten unteren Schichten
schwerer Unterdrückung ausgesetzt sind<, wie eine britische
Untersuchungskommission 1832 befand. Auch der Direktor der
Ostindischen Handelskompanie gab zu, daß >das Elend in der
Geschichte des Handels seinesgleichen sucht. Die Ebenen Indiens sind
übersät mit den Knochen der Baumwollweber<.
Die
von heutigen Theoretikern entworfenen Experimente von Weltbank und
Weltwährungsfonds sind also nicht ohne historische
Vorbilder.
Immerhin war das indische Experiment kein
vollständiger Fehlschlag, denn es schuf, wie Lord Bentinck ,
Generalgouverneur von Indien ausführte, > eine umfangreiche
Schicht von Großgrundbesitzern, die am Fortbestand des
britischen Dominions interessiert waren und die Massen in Schach
halten konnten<.
Im 19. Jahrhundert finanzierte Indien mehr
als zwei Fünftel des britischen Handelsdefizits, war ein Markt
für britische Waren und stellte Truppen für weitere
koloniale Eroberungen und den Opiumhandel, die Grundlage der
Beziehungen zu China. Bengalen wurde zum Exportland für Indigo
und Jute gemacht, die man andernorts verarbeitete; die Briten bauten
dort nicht eine einzige Fabrik.
Als Indien endlich nach dem
Zweiten Weltkrieg unabhängig wurde, war es ein armes,
überwiegend agrarisches Land mit hohen Sterblichkeitsraten, das
sich jedoch mit den Kolonialherren zugleich der langen Stagnation
entledigte und in den fünfziger und sechziger Jahren dreimal so
schnell wuchs wie unter britischer Herrschaft. Allerdings wuchs
Indien in eine bereits von vielen mächtigeren Konkurrenten
beherrschte Welt hinein.
In einer erhellenden Studie über
das moderne Ägypten sieht Afaf Lutfi Al-Sajjid Marsot in
der Geschichte ihres Landes Parallelen zu Indien. In den
dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts, als Muhammad Ali mit dem
Aufbau einer Baumwollindustrie begann, >hatte sich England auch
gerade darauf eingestellt und die industrielle Revolution auf der
Grundlage dieser Ware< und mit reichlich
Protektionismusbetrieben. Schon 1817 wie der französische
Konsul darauf hin, daß > die Seidenfabriken, die in Ägypten
aufgebaut werden, den italienischen und sogar unseren den Todesstoß
versetzen werden<.
Großbritannien brauchte Märkte
und keine Konkurrenz, schon gar nicht von Ägypten. Und es
brauchte keinen >neuen, unabhängigen Staat am Mittelmeer, der
zudem noch militärisch und wirtschaftlich mächtig und in
der Lage sein würde, den britischen Interessen in der Region und
am Persischen Golf einiges entgegenzusetzen<, schreibt Marsot.
Britanniens Außenminister Lord Palmerston gab denn auch
seinem >Haß< auf den >unwissenden Barbaren< Muhammd
Ali Ausdruck und hielt dessen Pläne zu einer Zivilisierung
Ägyptens für >äußersten Humbug<, während
er die britische Flotte und Finanzmacht in Bewegung setzte, um
Ägypten den Weg zu Unabhängigkeit und wirtschaftlicher
Entwicklung zu verlegen.
>die Industrialisierung schlug fehl<,
bemerkte Marsot weiter, > nicht weil die Ägypter unfähig
dazu gewesen wären, sondern weil europäischer Druck, der
sich der ottomanischen Kontrolle über Ägypten bediente,
alle potentiellen Rivalen, die der eigenen industriellen Entwicklung
gefährlich werden konnten, aus dem Feld schlug.
Allerdings
gehen mächtige Staaten mit ihrer Macht durchaus unterschiedlich
um. Ein Symposium der Universität Stanford, bei dem sowjetische
und US-amerikanische Dependenzen miteinander verglichen wurden, kam
zu dem Schluß, daß >Lateinamerikaner von ökonomischer
Ausbeutung reden<, während >die sowjetische Ausbeutung
Osteuropas hauptsächlich politisch und sicherheitsorientiert
ist<.
Das hatte u.a. zur Folge, daß der Lebensstandard
in Osteuropa höher war als in der UdSSR, was auf umfangreiche
Subventionen zurückzuführen ist, die sich,
US-amerikanischen Regierungsquellen zufolge, in den siebziger Jahren
auf 80 Milliarden Dollar beliefen. Der sowjetische Herrschaftsbereich
bildete, so Lawrence Weschler,, >in historisch einzigartiger Weise
ein Imperium, bei dem das Zentrum sich selbst zugunsten seiner
Kolonien, oder besser, zugunsten politischer Ruhe in diesen Kolonien,
verausgabte<.
Japan schlug einen anderen Kurs ein. Seine
Kolonialpolitik in Südkorea und Taiwan war brutal, schuf aber
die Grundlage für eine spätere industrielle Entwicklung.
Die chinesischen Nationalisten der Kuomintang, die nach ihrer
Vertreibung vom Festland sich auf Taiwan niederließen,
>profitierten außerordentlich von den japanischen
Staatsmonopolen, die sie übernahmen<, schreibt Alice
Amsden.
Taiwans bemerkenswertestes Nachkriegswachstum entsprach
dem Wachstum unter japanischer Herrschaft, während derer sich im
Agrarsektor trotz eines Bevölkerungszuwachses von 43 Prozent das
Prokopfeinkommen fast verdoppelte.
Amsden geht sogar davon aus,
>daß es den taiwanesischen Bauern in der ersten Hälfte
des 20.Jahrhunderts besser ging als den japanischen.
In der
Mandschurei sah das Bild jedoch ein bißchen anders aus. Japans
gegen die Aufständischen gerichteten Operationen nahmen das
Vorgehen der US-Truppen in Vietnam vorweg, und die Japaner führten
sich auch sonst recht besatzungsmäßig auf, was mit der
üblichen, auch im Westen gern benutzten, Rhetorik bemäntelt
wurde. Japans Weigerung, sich für seine Kriegsverbrechen
unzweideutig zu entschuldigen, wurde in den USA hat kritisiert; dafür
ist man hierzulande unter gewissen Umständen bereit, Vietnam
seine Verbrechen zu vergeben; Amerika ist eben eine großzügige
Nation, im Unterschied zu Japan.
Allerdings macht die in Japan
regierende Liberaldemokratische Partei als Reaktion auf die
US-Vorwürfe eine andere Rechnung auf: Die einst von Japan
beherrschten Gebiete haben sich nachträglich als ökonomische
Erfolge erwiesen, während die von den USA bevormundeten
Philippinen in dieser Hinsicht eine einzige Katastrophe
sind.
Natürlich kann, wie auch ein Blick auf die
europäische Geschichte zeigt, die globale Eroberung
unterschiedliche Formen annehmen. Es gibt Differenzen zwischen
traditionellem und neuem (eher indirektem) Kolonialismus, zwischen
>informellem Empire<, >Freihandelsimperialismus<
und Interventionen des Weltwährungsfonds.
Aber bestimmte
Muster sind über die Jahrhunderte hinweg gleichgeblieben, und
auch die Opfer des gegenwärtigen neoliberalen Fundamentalismus
wissen, woran sie sind.
Die Analyse dieser Muster sollte nicht
mit einer Version jener >Dependenztheorie< verwechselt werden,
die die Unvermeidlichkeit einer >Entwicklung der Unterentwicklung<
zu beweisen sucht. Historische Faktoren sind zu vielschichtig und zu
variabel für eine Theorie, die universelle Geltung beanspruchen
dürfte. Unter bestimmten Bedingungen hielten sich es die
Beherrscher der Welt für angeraten, eine Art
>Wirtschaftsnationalismus<, verbunden mit öffentlichen
Investitionen, zu fördern, auch wenn sie von ihren Grundsätzen
her dagegen waren. Abgesehen davon ist auch hochkonzentrierte Macht
nicht total und allumfassend. Was sich gleich bleibt, ist eine Reihe
von Binsenweisheiten: die Befolgung der Maxime
>Alles für
uns und nichts für die anderen< , die Ausrichtung der Politik
an den Interessen ihrer >hauptsächlichen Architekten<,
Churchills Doktrin von den >reichen Nationen< sowie die Märchen
über Altruismus, gute Absichten und Naivität, die von den
>verantwortlichen Männern< erzählt werden, damit sie
ihr gewissen beruhigen, die Öffentlichkeit besänftigen und
den Boden für das nächste >Experiment< bereiten
können.